Aberlos

Das Blatt ist leer und füllt sich nicht. Zumindest nicht mit Dingen, die Vera sich vorgestellt hat. Aneinandergereihte Buchstaben ergeben zwar Worte und aufeinanderfolgende Worte einen Satz. Sätze, die sich in Reih und Glied auf dem Papier wiederfinden ergeben aber noch lange keinen Sinn. Sie pustet die Luft durch die gekräuselten Lippen aus und atmet dann tief ein. Warum um Himmels willen ist das denn so schwer?

Vera findet noch immer keine Worte für das, was passiert ist. Bianca war überstürzt aufgebrochen. Seit Tagen hat sie nichts von sich hören lassen. Impulsives Verhalten gehörte zwar schon immer zum Repertoire ihrer Schwester, aber das überschreitet doch eine neue Grenze. Die Schwarzweißaufnahme lag auf Veras Teller, als sie zurück in die Küche kam. Ein graues Gummibärchen im Weltall. Nur Eltern können darin eine Fotografie erkennen. Vera fing sofort an, zu lachen und nahm ihre Schwester in den Arm. „Wie unglaublich schön! Ich freue mich für euch. Wann ist es denn so weit?“ – „Nächsten Herbst.“ Bianca löste sich aus den Armen und wischte eine Träne aus den Augen. „Meine kleine Schwester. So groß. Ich bin stolz auf dich!“ Bianca saß am Küchentisch und blickte auf Veras Hand, die ihre nochmal fest drückte. Veras Augen folgten dem Blick und sie bemerkte den Ring am Finger. „Nein wirklich? Wahnsinn, mir fehlen die Worte!“ – „’Gratuliere’ wäre wohl angebracht.“ – „Ja klar, gratuliere!“ „Freust du dich denn gar nicht über die Verlobung?“ „Doch natürlich. Wieso sollte ich denn nicht?“ – „Weil du Lorenz noch nie gemocht hast…“ – „Schwestermaus, wie kommst du denn auf sowas? Ich kenne ihn doch gar nicht gut genug. Du bist glücklich mit ihm, also freue ich mich für dich!“ – „Ach, komm mir nicht mit Schwestermaus!“ Abrupt stand Bianca auf und griff nach ihrer Handtasche, die auf der Küchenzeile lag. Im Flur konnte Vera die Autoschlüssel klappern hören und schon fiel die Tür fest ins Schloss.

Vera freut sich aufrichtig. Aber sie denkt, dass Bianca ihr sowieso nicht glaubt. Aber sie denkt, dass sie ihre Freude rechtfertigen oder erklären muss. Aber sie denkt, dass sie viele Worte braucht, um das offensichtliche vielleicht hormonell potenzierte Missverständnis aus der Welt zu schaffen. Sie sitzt vor dem halb beschriebenen Papier und zerreißt es. Das Geräusch reizt ihre Ohren und die Sinne scheinen sich nur noch auf einen einzigen aberlosen Satz zu konzentrieren, den Vera auf ein unbeschriebenes Blatt schreibt:

Es tut mir leid und ich freue mich von Herzen für dich.

Zwei Tage später summt ihr Telefon schon früh morgens und sie erhält eine Nachricht: „Mir tut es auch leid. Willst du meine Trauzeugin sein?“ Alles gesagt. Ohne Worte. Alles geklärt. Ohne Erklärungen. Alles in Ordnung. Ohne Drama. Manchmal lohnt es sich, den ersten Schritt zu machen.

Lebt leuchtend, Lena.

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