April

Etwas später als sonst betritt Anette den Flur, der zu ihrem Büro führt. Der dicke Teppich polstert ihre Schritte und gibt ihr ein federleichtes Gefühl. Sie hat die Jacke bereits im Fahrstuhl über den Arm gelegt und pustet sich die Haare deshalb von unten aus den Augen. Noch kommt ihr niemand entgegen. Ein gutes Zeichen. Es scheint noch nichts anzubrennen heute Morgen. Noch zwei Schritte und sie erreicht ihre Bürotür. Der Griff ist kalt und „Iiihhh“ entfährt es ihr. Ihre Hand ist voller weißer Paste. „Was ist das denn?“, schimpft sie. Der pfefferminzartige Geruch verrät es ihr: Zahnpasta. Zeitgleich öffnen sich die danebenliegenden Bürotüren. Aus mehreren Türen rufen ihre Kollegen: „April, April!“

Dieses Jahr macht sie auf jeden Fall mit. Letztes Jahr kam sie im Büro an und musste als allererstes die Zahnpasta von den Händen und danach die Reste vom Türgriff entfernen. Ärgerlich. Aber sie hätte es kommen sehen müssen. Ihre Kollegen spielen sich seit Jahren am 1. April streiche. Warum hätte sie verschont bleiben sollen. Anette sitzt in der Bahn und scrollt durch die Suchergebnisse für „Aprilscherz lustig“. Mehr und mehr drängt sich ihr das Gefühl auf, dass Aprilscherze immer nur für den Scherzenden lustig sind.

Wenigstens ist sie heute richtig früh dran. Noch wurde im Büro sicher nichts präpariert. Maus abkleben, Frischhaltefolie auf Toilettensitz – wer denkt sich bloß so etwas Bescheuertes aus. Anette sieht aus dem Fenster: Ein wunderschöner Morgen – viel zu schön, um ihn mit solchem Blödsinn zu vergeuden. Aber immer wieder schleicht sich das beklommene Gefühl vom letzten Jahr unter ihren himmelblauen Trenchcoat, den sie schon vor ein paar Tagen zum Frühlingsanfang herausgeholt hat. Wenn sie nicht mitmacht, werden ihre Kollegen in ihr ein leichtes Opfer für diese kindische Tradition sehen. Anette fröstelt und schließt auch den oberen Knopf. So sitzt sie zugeknöpft bis zum Hals mit den – zugegebener Maßen leicht umzusetzenden Streichen – auf dem Schoß da und macht sich bewusst, dass sie eine erwachsene Frau ist. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen und kann sich jetzt für oder gegen den Gruppenzwang aus Tradition entscheiden.

Anette ist klar, dass es Konsequenzen haben kann, sich gegen das von ihren Kollegen erwünschte Verhalten am 1. April zu stellen. Aber die Konsequenzen würden bei ihr sicherlich keinen mentalen Schaden anrichten. Umgekehrt fragt sie sich, ob der vielleicht leichtere Weg, einfach der Masse zu folgen, nicht den viel größeren Schaden anrichtet. Was, wenn sie sich am Ende nicht einmal mehr selber mag? Dieser Preis ist einfach zu hoch.

Einmal im Jahr kann sie mit einem kleinen Streich leben und bei sich denken ‚Meine Güte wie albern‘. Jedes Jahr etwas zu tun, dass gegen ihre Prinzipien geht, würde sie sich vor sich selbst unglaubwürdig machen. Sie will andere respektvoll behandeln und nicht veralbern. Anette steckt das Handy in die Tasche und öffnet langsam wieder den Trenchcoat. Nicht nötig, das ganze wortwörtlich zugeknöpft durchzusetzen. Es reicht schon, einfach nicht mitzumachen.

Lebt leuchtend, Lena.

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