Fassade

In letzter Minute schlägt sie die Autotür zu und bemüht sich, in ihrem Bleistiftrock und auf den Highheels nicht zu schnell die breiten Stufen zum Turm hinaufzusteigen. Weder für den Eindruck, den sie bei den umstehenden Personen hinterlässt noch für ihre Knöchel wäre ein Sturz jetzt angebracht. Der Turm erhebt sich mit seiner gläsernen Fassade über dem Platz und hat diesen Namen fast nicht verdient. Aber aus einem Grund, den Klarissa nicht nachvollziehen kann, wurde er von den Einwohnern der Stadt nicht Büromonster oder Ungetüm getauft, sondern einfach der Turm. Die letzte Stufe mit einem sehr langen Schritt nehmend, eilt sie die letzten Meter über den Vorhof, um das Gebäude zu betreten. Auf dem Weg grüßt sie hier und da einige bekannte und auch unbekannte Gesichter, die ihrerseits freundlich lächeln. Trotz Terminstresses muss die Zeit für Höflichkeiten schließlich nicht wegfallen. „Guten Morgen“, sagt ein ihr bekanntes Gesicht, das zu einem Mann in ihrem Alter gehört. Sie lächelt und nickt freundlich zurück. „Viel Erfolg heute bei dem Meeting! Ich drücke dir die Daumen.“, fügt er hinzu. „Danke.“

Der Fahrstuhl fährt mit hoher Geschwindigkeit in die oberste Etage. Über die Höhe darf Klarissa nicht zu lange nachdenken. Allerdings vergisst sie diese auch immer, sobald sie den weichen beigen Teppich im Foyer betritt, der ihre Schritte dämpft und sie umgehend langsamer gehen lässt. Noch im Fahrstuhl taucht vor ihren Augen wieder das letzte Gespräch auf. Woher wusste der Mann eigentlich von ihrem Meeting? Und wer ist der Typ? Ding. Der Fahrstuhl kommt zum Stocken und Klarissa betritt den Himmel, nachdem sie nochmals ihre Kleidung zurechtgerückt und ihre Haare im Taschenspiegel kontrolliert hat. Das Büro ist zwar in hellen Farben dekoriert, aber der Eindruck, im Himmel zu arbeiten, entsteht wohl eher durch die sonnendurchfluteten Räume. Der Turm macht seinem Namen doch alle Ehre und die Glasfronten lassen auch bei schlechten Wetter keinen Raum zu dunkel werden.

Klarissa betritt den Konferenzraum wie durch ein Wunder pünktlich und beginnt mit ihrer Präsentation. Aus den Augenwinkeln bemerkt sie, wie die Glasfronten von außen von zwei Männern geputzt werden. Die Männer sind wie immer mit einer Kletterausrüstung ausgestattet. Hoffentlich lenkt dieser durchaus faszinierende Anblick ihre Zuschauer nicht zu sehr von ihrer Präsentation ab. Aber Klarissa versteht ihren Job und fesselt jeden vor ihr Sitzenden. Kurz bevor sie am Ende angelangt und mit dem Laserpointer auf den letzten und wichtigsten Punkt aufmerksam macht, grinst ihr durch die Glasscheibe einer der beiden Männer zu. Er hebt die Hand und zeigt mit dem Daumen nach oben. Da erkennt sie ihn. Das ist der Typ, der ihr unten noch viel Erfolg gewünscht hat. Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Trotzdem klingt ihre Stimme nun eine Tonlage höher und sie fasst sich in den letzten drei Minuten ihres Vortrags beinahne 20 Mal an den linken Ellenbogen. Einen Tick, den sie schon seit Schultagen nicht ablegen kann. Klarissa ist sich nicht sicher, ob sie ängstlich sein sollte oder neugierig. Als sie ihre Sachen zusammenpackt, um an ihren Schreibtisch zu gehen, ist ihr klar: Ihr Herz hat sich für die Neugier entschieden.

Statt in ihr Büro, fährt sie mit dem Fahrstuhl nach unten. Auf dem Vorplatz zum Turm wartet bereits jemand auf sie. „Dachte mir schon, dass du runter kommst.“ Klarissas Mund fühlt sich zu trocken für eine Antwort an. „Keine Sorge, ich will dich nicht bedrängen. Ich habe dich letzte Woche beim Reinigen ganz konzentriert an deinem Computer gesehen. Als wir heute Morgen den oberen Teil eures Konferenzraums sauber gemacht haben, war dein Bild mit der Uhrzeit zu diesem Termin auf der Leinwand zu sehen. Ich hab dich wiedererkannt und als ich dich gesehen habe, dachte ich, ein bisschen Glück könne nicht schaden.“ Klarissa runzelt die Stirn. Will sich umdrehen und auf der Stelle gehen. Aber ihre Füße tragen sie nicht weg. Er scheint ihre Gedanken zu lesen. „Ist es denn gut gelaufen?“ – „Ja, sehr.“ Endlich eine Antwort. Sie hatte schon befürchtet, komplett zu verstummen. „Und wärst du bereit, das mit einem Kaffee mit mir zu feiern? Ich hab jetzt eine halbe Stunde Pause.“ Wieder nur ein Stirnrunzeln als Antwort. Diesmal schafft sie es aber, sich umzudrehen und Richtung Eingang zu gehen. „Zu früh? Nächste Woche bin ich wieder hier. Dann ist dein Fenster wieder dran.“ Klarissa wirft einen Blick zurück. Sie grinst. Er hat es gesehen. Manchmal genügt schon ein kurzer Blick.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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