Geradeaus

Nicht aufgeben, jetzt hast du es doch bald geschafft.“, sagt ihre Mutter ihr am Telefon. „Mama, ich kann wirklich nicht mehr. Der Druck ist enorm.“ – „Ach Fredi, das wird schon alles. Augen zu und durch.“ Frederike legt auf. Sie geht langsam durch die kühle Morgenluft, setzt einen Fuß vor den anderen und versucht dabei, tief durchzuatmen. Ja, ihre Mutter hat Recht. Die Abschlussprüfung an der Uni schafft sie jetzt auch noch. Der Arbeitsvertrag ab der nächsten Woche ist schon unterschrieben und bis hier hat doch alles wie am Schnürchen geklappt. Frederike geht geradeaus. Sie geht immer geradeaus.

Zwei Jahre später hält Frederike ein Plastikstäbchen in der Hand, auf dem sich gerade die zweite Linie rosa färbt. Sie ist schwanger. Ihr wird heiß und kalt gleichzeitig. „Positiv“, sagt sie zu ihrem Mann, der mit ihr gemeinsam gewartet hat. Die beiden stoßen mit alkoholfreiem Sekt an. An diesem Abend liegt Frederike mit der Hand auf ihrem Bauch im Bett und denkt über die Zukunft nach. Ihr Credo „Man bekommt keine Kinder, um sie dann abzugeben, ich habe aber auch nicht studiert, um Hausfrau und Mutter zu werden“ wird jetzt auf eine harte Probe gestellt. Das ahnt sie bereits, während ihr Baby noch nicht einmal die Größe einer Weintraube erreicht hat.

Der erste Schrei kommt sofort und Frederike wird eine etwas schmierige und zerknautschte, aber wunderschöne Tochter auf den Bauch gelegt. Dieser lebensverändernde Moment brennt sich sofort in Frederikes Gefühlswelt ein. Die Wochen vergehen jetzt wie im Flug, auch wenn manche Tage eine kleine Ewigkeit dauern. Frederike hat nur noch ein Ziel: Die beste Mutter für ihre Tochter sein. Zurück in ihren alten Job, in dem sie wie ferngesteuert erlerntes Wissen abgerufen und endlose Überstunden angehäuft hat? Undenkbar. Und trotzdem fühlt sie sich verloren und hilflos mit diesen Gedanken, als wäre sie im freien Fall seit sie ihr Baby das erste Mal im Arm hatte.

„Ich weiß nicht, wie ich das meinen Eltern beibringen soll.“, sagt sie morgens beim Frühstück zu ihrem Mann. „Es passt nicht zu mir, nicht arbeiten zu wollen. Und so fühlt es sich irgendwie an. Guck nicht so. Ich weiß auch, dass ich damit Geld verdienen will. Aber das ist alles so unsicher. Dafür will ich die ganze teure Ausbildung einfach wegwerfen? Für was? Um mich selbstständig zu machen mit einer fixen Idee?“ – „Vielleicht verstehen sie das ja.“ – „Es sind meine Eltern. Die wollen das beste für mich. Und ich hab doch selber das Gefühl, nur Hausfrau und Mutter zu sein und irgendwie alles aufzugeben. Die Selbstständigkeit fühlt sich nicht echt an.“ – „Willst du denn gerade in deinem Beruf arbeiten? Das kannst du doch immer noch. Du hast Zeit dafür. Du verlierst ja nicht deinen Studienabschluss.“ – „Das stimmt, wegnehmen kann mir das keiner. Aber werde ich meinem Lebenslauf so gerecht?“ – „Du wirst dir gerecht. Das ist doch viel wichtiger.“

Frederike denkt darüber nach. Bisher hat sie immer so gehandelt, wie es von ihr erwartet wurde. Sie hat nicht aktiv versucht, es allen anderen Recht zu machen. Stattdessen hat sie einfach die plattgefahrene Straße genommen, die schon Tausende vor ihr genommen haben: Abitur, Studium, Job, Hochzeit, Kind. Keine Umwege, sondern immer geradeaus. Und plötzlich ist alles anders. Ihr Spektrum hat sich verschoben. Ihre Wertvorstellungen sind einmal quer durch einen Fleischwolf gelaufen und haben sich danach Stückchen für Stückchen neu zusammen gesetzt. Frederike stellt in Frage, ob sie überhaupt das richtige gelernt hat. Oder ob sie nur etwas gemacht hat, das sich gut auf dem Papier macht. Auf dem Papier hat sie eine Traumkarriere. Und gerade gibt sie die im Kopf aus. Frederike hat Angst.

„Egal, wie du dich entscheidest. Ich unterstütze dich.“, ihr Mann nimmt sie in den Arm. „Danke.“ – „Ich glaube an dich. Ich glaube daran, dass du deinen Weg findest und ich glaube daran, dass du alles erreichst, was du dir in den Kopf setzt. Das hast du schon immer geschafft.“

Gestärkt durch die Erinnerung an ihre Fähigkeit, Ziele zu erreichen, sagt sie: „Ok, dann fange ich morgen damit an.“ Genug geradeaus gelaufen. Es ist Zeit für einen Schlenker. Vielleicht ist der Schlenker ein Umweg. Vielleicht ist er aber auch der Kurswechsel, der notwendig ist. Während Frederike wenig später ihre Tochter wickelt summt sie ein Kinderlied, das sie selber als Kind freudig gestimmt hat, vor sich hin. Die Melodie hatte sie bis jetzt vollkommen vergessen.

Manchmal genügt schon der feste Entschluss, etwas zu verändern und die Welt wird leichter.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch die Geschichte gefallen? Dann lasst gern einen Kommentar da. Habt ihr auch einen Richtungswechsel nötig oder denkt darüber nach? Vielleicht seid ihr aber auch schon weiter als Frederike und könnt im Rückblick beurteilen, ob Euer Schlenker ein Umweg oder ein Richtungswechsel war. Wir freuen uns auf Eure Geschichten.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert