Gewürzregal

Vorsicht. Der ist antik.“, ruft sie den Möbelpackern zu, die den alten Gewürzschrank gerade für ihren Geschmack zu unsanft in dem großen Transporter abgestellt haben. Es nieselt. Carmen ist nervös. Im Halbdunkeln packen die Möbelpacker, die bereits seit 6:00 Uhr beschäftigt sind die letzten Kisten in den Transporter und fahren dann ab.

Carmen setzt sich in ihr Auto und fährt ihnen hinterher. An der zweiten roten Ampel verliert sie den Möbelwagen aus den Augen und muss sich nun um so mehr auf den richtigen Weg konzentrieren. Der neue Laden liegt in der belebten Einkaufsstraße und sie hat einen guten Rabatt mit dem Vermieter aushandeln können. Carmens großer Traum erfüllt sich mit diesem Umzug: Ihr eigenes Geschäft im Stadtzentrum, das sie nach ihren Wünschen und Vorstellungen einrichten und leiten kann. Angestellte hat sie nicht. Erst einmal muss sich das Geschäft etablieren. Carmen biegt nun in die Einkaufsstraße ein, hält bei dem „Durchfahrt verboten“-Schild inne und erinnert sich dann daran, nun selber zu der direkt darunter benannten Gruppe der „Anlieger“ zu gehören, die einfahren dürfen.

Der Transporter ist noch nicht angekommen. Carmen betritt ihren Laden durch die kleine Eingangstür. Sie macht das Licht an. Der Raum strahlt sofort Ruhe aus und Carmen entspannt sich, obwohl sie nach wie vor sehr aufgeregt ist. Was, wenn keine Kunden kommen? Was, wenn sich ihre Vision als totaler Quatsch und als Blödsinn entpuppen? Bis hierhin hat alles so geklappt, wie sie es sich gewünscht hat. Der Echtholzboden glänzt noch von der Versiegelung, die ihn schützen soll. Langfristig hofft Carmen aber auf eine Abnutzung, die noch mehr Gemütlichkeit ausstrahlt. An den Wänden stehen Regale aufgereiht, in denen diverse Bücher und Gegenstände vermeintlich unsortiert zu finden sind. In der Mitte des Raumes befindet sich eine Theke, in der Carmen ihren Computer untergebracht hat. Auch die alte Kasse, die mehr der Zierde dient, steht dort bereit. Zusätzlich steht auf der Theke ein Kaffeevollautomat. Insgesamt befinden sich in dem Raum drei Sitzgruppen mit unterschiedlichen Möbelstücken. Sofas, Sessel, Stühle und Tische hat Carmen auf Flohmärkten zusammen gesucht und in Eigenregie aufgearbeitet. Der ganze Raum wirkt unaufgeräumt aufgeräumt. Wie ein Wohnzimmer, in dem man es sich sofort gemütlich machen will. Das ist Carmens Intention. Sie verkauft nicht nur Bücher und Schönes, sondern auch die gemütliche Atmosphäre. Bei ihr soll man sich so wohlfühlen, dass man zusätzlich auf einen Kaffee bleibt und in einem Gespräch verweilt oder seinen Gedanken nachhängt.

Draußen hupt es. Der Transporter ist angekommen. Carmens Herz schlägt wieder schneller. Die Möbelpacker steigen aus und fangen an, die Kartons in das Geschäft zu räumen. Carmen macht sich eifrig ans Auspacken. Zuletzt tragen die Möbelpacker das antike Gewürzregal schnaufend herein und fragen, wohin sie es stellen sollen. „Dort vorn direkt vor den Tresen.“, antwortet Carmen. Sie deutet auf die Stelle und freut sich schon auf den Anblick. Doch dann stolpert einer der Packer über ein Stück Luftpolsterfolie und rutscht aus. Er lässt das Regal los, das laut auf den Fußboden knallt. Es scheppert im Innenraum. Dem Mann ist glücklicherweise nichts passiert. Das Regal scheint auch unbeschadet davon gekommen zu sein. Die empfindlichen Porzellanschubladen sind nicht zerbrochen und offensichtlich hat sich nur ein kleines Stück Holz im Innenraum gelöst. Glück gehabt. Noch etwas zurecht gerückt steht das Regal nun an Ort und Stelle und die Möbelpacker verabschieden sich. Carmens Herzschlag beruhigt sich wieder.

Carmen beginnt, in das alte Regal Kleinigkeiten einzusortieren. Kleine Naschereien zum Kaffee. Mist. Eine Schublade klemmt jetzt doch. Verdammt. Sie ruckelt daran und plötzlich löst sich die Schublade. Carmen hält sie nun in der Hand und sieht in der Lücke, die die Schublade hinterlassen hat, ein kleines grünes Notizbuch liegen. Sie nimmt es heraus. Die Seiten sind vergilbt und mit dunkelblauer Tinte handbeschrieben. Viele lateinische Begriffe sind darin zu finden. Und Rezepte. Carmen betrachtet das Notizbuch in ihren Händen genauer und stellt fest, dass es sich um ein Naturheilkundebuch im weitesten Sinne handelt. Auf der letzten Seite ganz unten steht Alexandra N., 1899. Wahnsinn. Carmen wusste, dass das Regal alt ist. Aber so alt hätte sie es nicht eingeschätzt und schon gar nicht hätte sie mit einem Geheimversteck gerechnet.

Sie nimmt das Buch und setzt sich in eine der Sitzecken. Etwa in der Mitte des Buches findet sie eine Notiz, die kein Rezept beinhaltet: „Es ist egal, wie gut wir den Körper heilen können. Die Seele muss allem anderen vorangestellt werden. Wir haben keine direkte Kontrolle über unseren Körper und über äußere Einflüsse, aber über unser Seelenwohl können wir selber bestimmen.“ Carmen denkt über diesen Satz nach. Ja das stimmt. Sie hat keinen Einfluss darauf, ob ihr Geschäftsstart heute gut oder schlecht anläuft. Carmen kann nur weiter ihr bestes geben und ihr Herzblut in ihre Sache stecken. Der Rest wird sich finden oder nicht, aber sie kann damit leben, weil sie durch ihre neue Aufgabe mit sich im Reinen ist und sich ihren persönlichen Traum erfüllt. Ob die Welt mit träumt, entscheidet nicht Carmen. Sie legt das Notizbuch zur Seite. Später wird sie sich genauer damit beschäftigen. Jetzt beginnt sie summend und positiv gestimmt, die letzten Sachen einzuräumen. In einer Stunde öffnet sie die Tür für die Welt.

Lebt leuchtend, Lena.

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