Jetzt

Wir könnten hier auch noch dieses Bild einfügen, dann wirkt es lebendiger“, sagt Viola und deutet auf den Monitor, der auf dem Schreibtisch steht. Davor sitzen Viola und ihre Teamleiterin. Die nickt zwar, sagt aber: „Gut, dann sind wir ja fertig. Gute Arbeit Viola.“ Sie steht auf. „Und was ist jetzt mit dem Bild?“ – Die Teamleiterin stutzt: „Mhm? Ach so, nein, das wirkt zu überladen.“

Viola speichert die Datei ab und schickt der Teamleiterin die vorbereitete E-Mail für ihre gemeinsame Chefin. Ihre Teamleiterin wird den Rest übernehmen. Viola befindet sich ganz unten in der Hierarchie und hat sich das Recht, direkt mit ihrer Chefin zu kommunizieren, noch nicht verdient. Wenn es nach Viola ginge, wäre das Bild eingefügt worden und die E-Mail von ihr direkt an ihre Chefin gegangen. Aber ihre Teamleiterin sagt dazu: „Du bist Werkstudentin. Du wirst nicht fürs Denken, sondern fürs Arbeiten bezahlt.“ Viola führt vor allem das aus, was andere planen und wahrscheinlich muss das auch so sein. Ihr Kopf droht nur regelmäßig zu platzen, weil die Ideen darin keinen Platz mehr in den dunklen Ecken finden. Traut sie sich, etwas zu sagen, hört die Teamleiterin nicht einmal richtig hin. Das erlebt sie oft.

Am Nachmittag findet eine Fortbildung für alle Studenten statt. Die Vorfreude hält sich bei allen in Grenzen. Viola würde ihre Zeit gern besser nutzen. Aber ohne den Job kann sie ihr Studium und ihre Wohnung nicht finanzieren. Und ohne abgeschlossene Ausbildung sinken ihre Chancen, irgendwann mal zur denkenden Abteilung eines Unternehmens zu gehören. Nur noch anderthalb Jahre und dann hat sie ihren Abschluss. Dann wird bestimmt alles besser.

Viola betritt den Raum, in dem bereits zehn Plätze an dem Konferenztisch mit Wassergläsern gedeckt sind und Notizblöcke bereit liegen. Es sind bereits ein paar andere Studentinnen anwesend und Viola gesellt sich zu ihnen. Pünktlich um 15:00 Uhr öffnet sich dann die Tür. Aber anstatt der Teamleiterin betritt die Chefin den Raum. Die Fortbildungsteilnehmer stutzen.

„Keine Sorge“, grinst die Chefin, während sie es sich auf dem Stuhl am Tischende bequem macht. „Ich habe mir vorgenommen, noch mehr mit meinen Mitarbeitern zu kommunizieren. Da gehört ihr genauso dazu, wie die anderen.“ – „Und was ist mit der Fortbildung?“, fragt Violas Sitznachbarin. „Mal sehen, was steht denn heute auf dem Plan? Oh ja, Formatierung in Office. Wenn ich raten sollte, würde ich tippen, dass ihr das auch ohne Anleitung schon besser könnt, als einige eurer festangestellten Kollegen hier. Aber das bleibt unter uns.“, sagt sie und zwinkert in die Runde.

„Nein, mich interessiert eher eure Meinung zu der aktuellen Ausgabe, die nächsten Monat erscheinen soll. Die Teamleiter bieten mir mehr oder weniger immer die gleichen sich wiederholenden Phrasen an, die sie versuchen mit cleveren Worten in ein neues Gewand zu stecken. Ein bisschen frischer Wind im Denkprozess wird der Ausgabe gut tun.“ Stille im Raum. Viola hört ihre Sitznachbarin schlucken und ihren gegenübersitzenden Kollegen hüsteln. „Also? Was denkt ihr? Ich will eure ehrliche Meinung haben?“ Keiner macht Anstalten, etwas zu sagen.

Viola denkt angestrengt nach. Sie hat viele Ideen und eine Menge zu sagen. Wenn sie aber etwas sagt, wird ihre Teamleiterin das erfahren. Viola ist zwar jung, hat aber schon verstanden, dass diese sich in ihrem Ego verletzt fühlen wird und ihr danach den Alltag erschwert. Selbst wenn ihre Chefin die Ideen gut findet, würde sich an der Hierarchie nichts ändern. Andererseits hat Viola auch nichts zu verlieren: Stupide die Anleitungen ihrer Teamleiterin ausführen, gehört jetzt schon zu ihrem Hauptaufgabenbereich. Noch langweiliger kann es nicht werden. Jetzt ist die Chance da. Wenn nicht jetzt, wann dann? In anderthalb Jahren, wenn sie ihr Studium abgeschlossen hat und vielleicht in einem anderen Unternehmen arbeitet?

„Also ich habe schon einige Vorschläge.“, sagt sie zaghaft. „Na dann schieß mal los. Viola, richtig?“

Viola nickt und beginnt zu reden und zu erklären. Erst mit leiser Stimme, dann aber zunehmend selbstbewusster. Irgendwann verspürt sie das Bedürfnis aufzustehen, und etwas auf dem Whiteboard zu visualisieren. Nach einem zehnminütigen Monolog sagt sie „So in etwa würde ich es machen.“ und setzt sich zurück auf ihren Platz. Wieder Stille im Raum. Ein eifriger Werkstudent hat während ihres Vortrags mitgeschrieben und notiert sich offenbar letzte Gedanken. Im ganzen Raum hört man nur noch das Kratzen seines Bleistifts auf dem Papier des fabrikneuen Notizblocks.

Die Chefin sitzt zurückgelehnt auf ihrem Platz und sieht das Whiteboard an. Dann blickt sie Viola in die Augen und beginnt zu klatschen. „Sehr gut. Nicht übermütig werden, aber sehr gut. Bitte mach gleich einen Termin mit meiner Assistentin aus, damit wir morgen nochmal in Ruhe darüber reden können.“ Viola läuft rot an. Was hat sie da gerade gemacht? Sie platzt vor Stolz, hat aber auch Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie nickt und sagt mit fester Stimme, was sie nun erstaunlicherweise einiges an Kraft kostet: „Ok.“

Das Gespräch zwischen der Chefin und den anderen Teilnehmern plätschert vor sich hin, aber Viola kann kaum noch zuhören. Ihr Kopf summt vor lauter Adrenalin, das gerade in jeder Zelle ihres Körpers wütet. Manchmal muss man sich einfach trauen, etwas zu wagen. Einen perfekten Zeitpunkt gibt es sowieso nicht.

Lebt leuchtend, Lena.

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