Paillettenrock

Sie sieht in den Spiegel. Gut, denkt sie. So kann es gehen. Überzeugt ist sie noch nicht, aber das Gefühl kennt sie schon. Sie zieht ihren Rock noch etwas zurecht und verlässt dann den Raum. In ihren langen Wintermantel gehüllt, betritt sie die U-Bahn. Sie fühlt sich unwohl und verkleidet. Der Typ am anderen Ende des Abteils starrt sie ungeniert an. Sie tut so, als würde sie es nicht merken. Unendlich erleichtert atmet sie tief ein, als sie 15 Minuten später wieder die Oberfläche erreicht.

„Hey Süße“, begrüßt sie ihre beste Freundin. „Du siehst toll aus.“ – „Danke, hab mein bestes gegeben.“ – „Neuer Rock?“, fragt ihre Freundin und zeigt auf den blauen Paillettenrock, den sie schon wieder zurecht ziehen muss. „Ja, der soll davon ablenken.“ – „Ach Süße. Du siehst toll aus. Du musst von nichts ablenken.“ „Doch. Eben in der U-Bahn hat mich so ein Typ durchgehend angestarrt. Richtig unangenehm. Aber da hatte ich ja auch noch meinen Wintermantel an. Der lenkt von nichts ab.“ Während sie redet, fährt sie sich mehrfach mit der Hand am Kinn den Hals herunter. „Geht es jetzt?“, fragt ihre Freundin. „Ja, es juckt nur immer, wenn ich nervös bin.“ – „Na dann entspann dich mal besser. Hab den Kaffee schon bestellt. Ah – wie auf Kommando – Dankeschön“, zwinkert sie dem Kellner zu.

Die Tür zum Restaurant öffnet sich, während der Kellner die Kaffeebecher der beiden Freundinnen füllt. Mit der kalten Luft strömt auch eine Gruppe junger Leute in den Hauptraum. Sie erkennt ihn sofort, den Typen aus der U-Bahn. Während sie versucht, sich wegzudrehen, um seinem Blickfeld zu entschwinden, legt sie ihre Hand auf die juckende Stelle am Hals. „Was machst du denn?“, fragt ihre Freundin. „Da hinten ist der Typ aus der U-Bahn. Der mich so angestarrt hat.“ – „Wie? Der, der gerade direkt auf dich zugeht?“ Was? Nein! Sie will im Boden versinken. „Hi!“ hört sie eine männliche Stimme, die tiefer und freundlicher klingt, als sie erwartet hat. Sie dreht sich zurück und blickt ihm kurz in die Augen, bevor sie dann gezielt an ihm vorbei zur Bar guckt. „Hi“, gibt sie zurück.

„Du warst eben schon in der U-Bahn, oder?“ – „Blöde Frage. Du hast mich doch die ganze Zeit angeglotzt. Ich hab echt keine Zeit, mich jetzt schon wieder verarschen zu lassen. Kannst du bitte einfach gehen?“ – „Entschuldige bitte. Ich wollte dich und deine Freundin nicht stören. Ich dachte nur, dass es kein Zufall sein kann, dass wir uns zweimal an einem Tag sehen. In der U-Bahn war ich ein Feigling und habe dich nicht angesprochen. Als ich dich eben erkannt habe, dachte ich mir, ich hole das nach. Aber ich will nicht stören.“, sagt er und dreht sich um. „Warte mal“, sagt ihre Freundin und hält ihn zurück. „Was wolltest du meiner Freundin denn sagen? So viel Zeit haben wir schon.“, grinst ihre Freundin erst ihn und dann sie an.

„Ich wollte sie eigentlich fragen, ob ich ihr einen Drink spendieren kann. Eigentlich passt das nicht zu mir, aber irgendwie musste ich das machen.“ – „Ach komm, verarschen kann ich mich selber. Du willst mir nen Drink ausgeben, damit du mich dann hinterher oder vorher blöd sitzen lassen kannst.“ Er wirkt gekränkt und antwortet: „Ok, ich wusste offensichtlich nicht, wo ich hier rein gerate.“ Er geht. „Siehst du.“, guckt sie ihre Freundin an. „Naja, also bei der Antwort von dir, hätte ich genauso reagiert. Was sollte das denn?“ – „Ich will einfach nicht schon wieder das arme Mädchen mit der Verbrennung am Hals sein, das man wunderbar hinters Licht führen kann.“ – „Süße. Auf mich wirkte der ganz ehrlich und aufrichtig.“ Mag sein, aber sie wurde zu oft betrogen und ihre Hoffnungen wurden zu oft enttäuscht.

„Ich geh mal kurz auf die Toilette, bin gleich wieder da.“, sagt ihre Freundin und legt ihr beim Verlassen des Tischs nochmal die Hand auf die Schulter. Mit ihrem Kaffeebecher in der Hand sitzt sie nun allein an dem Tisch und hängt ihren Gedanken nach. Plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter. Der Typ schon wieder. „Was denn noch?“, fragt sie.

„Deine Freundin hat mir gerade gesagt, dass du schüchtern bist und auch weshalb.“, er deutet auf ihren vernarbten Hals. „Keine Sorge, ich will dich bestimmt nicht zu einem Drink oder irgendwas anderem drängen. Ich will aber eins klarstellen: In der U-Bahn habe ich dich beobachtet, weil du mich total fasziniert hast. Du sahst einfach toll aus und ich hab mich die ganze Zeit gefragt, ob du das selber gar nicht realisierst. Anscheinend war mein Gefühl da schon ganz richtig…“ Sie blickt ihm jetzt doch in die Augen.

„Deine Narbe habe ich erst gesehen, als du ausgestiegen bist. Und ich bin trotzdem an deinen Tisch gekommen, oder?“ Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Der Kaffee scheint zu wirken, jedenfalls fängt es an, in ihren Ohren zu summen. Oder sind das Endorphine? Vielleicht stimmt es und man muss manchmal doch wortwörtlich aus seiner Haut kommen.

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert