Perfektion

Der Wecker klingelt pünktlich um 4:30 Uhr und Marie steht auf. Die Snoozefunktion benutzt sie nie. Sie hat es sich leicht gemacht, die guten Gewohnheiten aufrechtzuerhalten. Ihr Handy liegt im Nachbarraum. Wenn sie wirklich snoozen will, muss sie aufstehen und dann ist sie sowieso schon wach. Die Sportklamotten liegen immer schon bereit und die Laufschuhe stehen neben der Haustür. Nach einem dreißigminütigen Lauf steht sie unter der Dusche und freut sich auf ihr Frühstück, das ebenfalls schon vorbereitet ist. Sie trinkt ein Glas Wasser und setzt sich, um ihren ersten Becher Kaffee zu genießen. Jetzt noch etwas Tagebuch führen, danach ein bisschen Lesen und der Tag ist perfekt gestartet.

Mittlerweile ist es 5:30 Uhr und Marie löffelt ihren Jogurt mit Früchten. Sie atmet tief durch. Diese wunderbare Ruhe. Nur noch Schreiben und Lesen. Ganz in Ruhe Frühstücken und dann eins nach dem anderen. Marie ist versunken in ihren Gedanken. Plötzlich ein lautes Piepen. So laut, dass Marie den Löffel fallen lässt und sich den heißen Kaffee über den neuen weißen Kaschmirpullover kippt. „Was?“, schreit sie vor lauter Schreck in das nun fast schon dröhnende Piepen, als könne sie jemand hören.

„Verdammt, das ist der Rauchmelder.“, murmelt sie und läuft in die Richtung aus der das Geräusch kommt. Es wird immer lauter. Sie steigt auf ihr Bett und versucht verzweifelt, das Gerät von der Decke zu bekommen. Es fällt ihr bei dem Lärm aber schwer, sich zu konzentrieren. Nach einer kleinen Ewigkeit hat Marie den Rauchwarnmelder endlich in der Hand. Einen Knopf kann sie nicht finden, weshalb sie kurzentschlossen die Batterien entfernt.

Marie lässt sich auf ihr Bett fallen. Die Laken sind nur etwas verschoben, aber der Anblick stört sie. Ihr Herz rast. Sie horcht aufmerksam und atmet tief ein. Sie kann weder Rauch sehen noch riechen. Das muss ein Fehlalarm gewesen sein. Sie blickt auf ihre Armbanduhr. Mist, schon 6:00 Uhr. In einer halben Stunde muss sie allerspätestens aus dem Haus. So kann sie nicht alles schaffen, was sie noch vor hatte.

Marie geht im Kopf die Liste durch: Neuen Pulli raus suchen und anziehen, Jogurt vom Fußboden aufwischen, Schreiben, Lesen. Für das Schreiben nimmt sie sich immer am meisten Zeit, weil ihr das Tagebuch schwere Gedanken abnimmt und sie so erleichtert mit ihrem Tag beginnen kann. Heute fehlt ihr die Zeit dafür, obwohl der ganze Vorfall keine fünf Minuten gedauert hat.

In Marie steigt Unruhe auf. Sie ist nervös, weiß aber, dass das Blödsinn ist. Der Tag kann auch ohne ihr Tagebuch und ohne etwas zu Lesen beginnen. „Jetzt zieh dich an und dann mach dich auf den Weg.“, sagt sie zu sich selber. Sie macht das Bett und räumt die Küche extra ordentlich auf. Den Rauchmelder legt sie zusammen mit der Batterie in eine Schublade und speichert eine Notiz in ihr Handy, um ihrem Vermieter davon zu berichten.

Pünktlich um 6:30 Uhr verlässt sie das Haus. Auf dem Weg ist Marie angespannt. Alles wäre besser, wenn sie ihre Morgenroutine hätte beenden können. Dann wäre alles perfekt gewesen. Bei der Arbeit angekommen begrüßt ihre Kollegin sie mit einem Lächeln: „Wow, du siehst immer so toll aus. Sieh mal da: Ein Paket für dich.“ Marie bedankt sich nickend und etwas verschämt für das Kompliment. Dafür, dass sie kurzfristig ihr Outfit ändern musste, sieht sie ganz passabel aus. „So toll“ ganz bestimmt nicht, aber ihre Kollegin will sie sicher nur aufmuntern.

Das Paket, auf das ihre Kollegin gedeutet hat, kommt von der Druckerei. Die beauftragten Flyer sind angekommen. Marie beginnt, das Paket zu öffnen. „Mist. Die sind nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe.“, sagt sie leise. Ihre Kollegin kommt näher. „Was meinst du? Die sehen doch genauso aus, wie beauftragt.“ – „Die Farbe ist nicht ganz perfekt. Das gelb ist nicht Eierschale sondern eher Senfgelb“ – „Marie, die sind wunderschön. Wir haben doch gar keine Zeit mehr, jetzt noch Änderungen vorzunehmen. Dein Perfektionismus steht dir manchmal echt im Weg. Es muss doch nicht immer alles perfekt sein. Das geht doch auch gar nicht. Reicht es dir nicht, dass du hier durchgehend exzellente Arbeit leistest und dich dafür alle bewundern?“

Marie lächelt und tut so, als würde sie einlenken und zustimmen. Welcher Perfektionismus denn? Sie will doch nur, dass alles so ist, wie sie es plant. Was ist denn falsch daran, seinen Job ernst zu nehmen oder möglichst genau zu arbeiten? Gestresst setzt sie sich an ihren Schreibtisch. Als sie das Büro abends verlässt, denkt sie immer noch an die Flyer und die falsche Farbe.

Während sie ihre Haustür aufschließt, erinnert sie sich erneut an den Vormittag und die verpatzte Morgenroutine. Morgen muss das wieder klappen. Morgen wird perfekt.

Nach einer erholsamen Nacht und und einem entspannten Morgen kommt Marie pünktlich bei der Arbeit an und setzt sich an ihren Schreibtisch. „Bitte kommen Sie sofort in mein Büro, sobald Sie da sind. K.“, steht da auf einem handgeschriebenen Post-It, der mittig auf ihrem Computerbildschirm angebracht ist. Sie geht mit einem mulmigen Gefühl im Bauch in das Büro ihres Chefs, in dem auf dessen Schreibtisch der Flyer von gestern liegt.

„Herr Kaller, ich weiß, die Farbe…“, beginnt Sie, doch ihr Chef hebt die rechte Hand. „Frau Wessel, die Farbe gefällt mir viel besser, als ihr eigentlicher Entwurf. Das wollte ich ihnen gestern schon sagen, aber ständig ist mir etwas dazwischen gekommen. Haben sie die Änderungen kurzfristig vorgenommen? … Sehr gut, solches Engagement brauchen wir.“ – „Also ehrlich gesagt nein. Die Druckerei hat den falschen Farbcode gewählt. Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Aber mit den Lorbeeren kann ich mich nicht schmücken.“ – „Ach Papperlapapp. Dann haben Sie die Farbe eben nicht geändert. Manchmal helfen Zufälle und Sie können ja nicht alles kontrollieren. Die Flyer sind wunderbar und das ist immer noch ihr Verdienst. Seien Sie stolz darauf!“, beendet der Chef das Gespräch. Er lächelt sie noch einmal an und widmet sich dann wieder seinen E-Mails.

Sie geht über den langen Flur zurück zu ihrem Schreibtisch. Ihr Chef ist zufrieden. Sie hat keinen Ärger bekommen. „Sie können ja nicht alles kontrollieren.“, hallt es in Maries Kopf nach. Offensichtlich kann sie das wirklich nicht und augenscheinlich ist der Flyer so auch besser als perfekt. Marie hält kurz inne und sammelt sich. Besser als perfekt. Sie kann nicht alles kontrollieren. Besser als perfekt ist exzellent. Sie hat ihr bestes gegeben und das erkennt ihr Chef an. Besser geht es nicht. Marie betritt nun summend ihr Büro und setzt sich lächelnd an ihren Schreibtisch. Vielleicht muss nicht immer alles perfekt sein.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch die Geschichte gefallen? Dann lasst gern einen Kommentar da. Seid ihr wie Marie und bemerkt vielleicht gar nicht, wie perfektionistisch ihr seid und wie sehr Euch das vom Glücklichsein abhält? Oder kennt ihr jemandem bei dem das so ist?

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