Rosenmeer

Sie lauscht aufmerksam, während sie die Haustür ins Schloss fallen hört. Dann springt sie energiegeladen aus dem Bett. Marlena ist aufgeregt. Heute ist ein besonderer Tag. Ihre Freundin ist jetzt etwa eine Stunde zum Joggen unterwegs, würde danach vorbestellte Brötchen vom Bäcker holen und dann das Frühstück für die beiden vorbereiten. So geht das schon seit Monaten, seitdem Marlena ihre Diagnose erhalten hat. Marlena ist meistens zu schwach gewesen und ihre Freundin hat die ganze Verantwortung für ihr gemeinsames Leben übernommen und getragen. Das war und ist fantastisch, aber nicht fair. Vor etwa zwei Monaten bei ihrem täglichen Therapiebesuch im Krankenhaus hatte der Arzt endlich positive Nachrichten für Marlena: Ein Licht am Ende des Tunnels. Marlena war außer sich vor Freude und wäre am liebsten sofort ins Auto gestiegen, hätte ihre Freundin von der Arbeit abgeholt und die beiden hätten den Beginn der Zukunft feiern können. Eine Art zweiten Geburtstag oder weiteren Jahrestag oder etwas in der Art. „Jahrestag“: Marlena blieb noch auf dem Krankenhausflur im grellen Licht stehen.

Seit zwei Monaten liegt Marlena nun morgens wach und lauscht auf die Geräusche ihrer Freundin, die sich im Halbdunkeln die Laufsachen anzieht, um Marlena nicht zu wecken. Dann geht ihre Freundin runter in die Küche, trinkt ein Glas Wasser mit Zitrone und verlässt nach wenigen Augenblicken die Haustür. Nun hat Marlena das Haus eine Stunde für sich. Zwei Monate lang ist sie also um kurz nach fünf aufgestanden und hat Vorkehrungen getroffen. Anfangs war sie dabei noch sehr schwach auf den Beinen und hat sich häufig gefragt, ob sich der Aufwand lohnen wird. Nach einigen Wochen stellte sich eine befriedigende Routine ein, die Sicherheit versprach. Auch körperlich merkte Marlena deutliche Verbesserungen. Nach einer Stunde ging sie zurück in ihr Bett und wartete dann ab, bis ihre Freundin sie sanft weckte. Jeden Morgen für zwei Monate.

In ihrer Küche stehen jetzt 250 rote Rosen in großen Vasen angeordnet, die dank der akribischen Vorbereitung in Zusammenarbeit mit der örtlichen Gärtnerei bereits angeschnitten sind und heute pünktlich um zehn nach fünf geliefert wurden. Der Essbereich im Wohnzimmer ist nicht mehr wiederzuerkennen: Statt des Tisches mit 6 Stühlen befindet sich in der Mitte des Raumes ein roter Teppich und am Ende befindet sich eine kleine Tribüne, mit einem Lichterbogen, der ebenfalls mit roten Rosen verziert ist. Auf der Küchentheke liegen mehrere Tüten des Bäckers, bei dem Marissa jeden Tag die gleiche Bestellung abholt: Zwei Dinkelbrötchen und zwei Vollkornbrötchen. Heute finden sich in den Tüten nicht nur Brötchen. Stattdessen ist dank der freundlichen Unterstützung des Bäckers auch noch eine Schokoladentarte dabei, die Marissa so gern isst. In der Tarte ist der Ring – geschützt durch ein kleines hitzebeständiges Behältnis – eingebacken. Ein schlichter Weißgoldring mit einem kleinen Diamanten. Nichts protziges, das würde nicht zu Marissa passen.

Um 05:30 Uhr klingelt es an der Tür. Das läuft ja alles wie am Schnürchen. Alles ist bereit. Um kurz nach sechs sendet sie den Text an Marissa, der so unschuldig wie möglich klingen soll: „Lass dir Zeit und genieß’ den Sonnenaufgang :* Die Brötchen habe ich abgeholt und das Rührei steht bereits zum Warmhalten im Ofen.“

Marissa zieht sich wie immer die Laufschuhe aus und geht dann, so wie sie ist, in die Küche, wo Marlena in ihrem hübschesten Kleid auf sie wartet. Auf dem kleinen Küchentisch steht eine Vase mit drei Rosen „Ich wollte dir auch mal eine Freude machen. Du hast in den letzten Monaten so viel für mich getan. Da war es Zeit, mich mal zu revanchieren.“, lächelt sie Marissa an. „Vielen Dank!“, strahlt diese. „Als du mir eben geschrieben hast, hat mein Herz einen Sprung gemacht und ich war sogar etwas erleichtert. Ich würde jederzeit jeden Morgen alles für dich tun, das weißt du. Aber es ist schön, wenn du dich fit fühlst. Außerdem freue ich mich auch ganz ehrlich über deine Worte gerade.“ Marissa ist den Tränen nahe. Die letzten Monate waren auch für sie nicht einfach, was Marlena absolut bewusst ist. Nachdem Marissa geduscht ist, sitzen die beiden am Küchentisch und frühstücken. „Schokotarte zum Frühstück? Haben wir was zu feiern?“, fragt Marissa. „Genau genommen schon. Ich werde wieder ganz gesund.“ Der Ton der aus Marissas Mund als Antwort kommt, kann wohl nur von Fledermäusen verstanden werden. Sie steht auf und umarmt Marlena fest. „Ich liebe dich.“ – „Ich dich auch.“

Marissa schneidet die Tarte an und landet gleich den Volltreffer. Jetzt ist sie völlig verwirrt. „Willst du mich heiraten?“, fragt Marlena, während Marissa ungläubig den Ring aus dem kleinen Behältnis holt und nur noch stumm nicken kann.

Etwa fünf Minuten später, Marissa kann wieder klar atmen und bestaunt ihr neuestes Schmuckstück an ihrem linken Ringfinger, fängt es aus dem Wohnzimmer an zu summen. Mehrstimmig. Die engsten Freunde und Verwandten der beiden stehen links und rechts des roten Teppichs, der von den restlichen Rosenvasen gesäumt wird, vor ihren Stühlen und summen den Hochzeitsmarsch, während Marlena und Marissa sich Hand in Hand zum Lichterbogen bewegen. Dort steht ein Standesbeamter. In der Mitte des Raumes hält Marlena Marissa zurück und sagt: „Ich hätte fragen sollen, ob du mich h e u t e heiraten willst.“ Marissa stimmt als Antwort nur in das Summen ein und geht mit Marlena an der Hand geradewegs auf den Standesbeamten zu.

Lebt leuchtend, Lena.

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