Schwingungen

Der Lärm ist kaum zu ertragen. Nora öffnet vorsichtig die Augen und blinzelt gegen das Licht. Durch den schmalen Schlitz, den ihre Lider bilden, erkennt sie den flackernden Bildschirm am Ende des Bettes. Nein, an der Wand. Sie tastet mit der rechten Hand nach ihrer Armbanduhr, die sie neben sich abgelegt hatte. „Wie spät ist es?“, murmelt sie. „Halb acht. Hab ich dich geweckt?“ – „Mhm. Kannst du den vielleicht ein bisschen leiser stellen?“ – „Kein Problem. Nur kurz die Nachrichten gucken.“ Anna blickt wieder auf den Bildschirm, während Nora versucht, nicht hinzuhören. Wortfetzen des Nachrichtensprechers erreichen ihren Gehörgang und ihr Puls erhöht sich zeitgleich. Eben noch lag sie gemütlich im Bett und jetzt putzt sie sich die Zähne und versucht, sich auf sich zu besinnen. Anna zieht sich gerade an, als Nora zurück ins Schlafzimmer kommt. „Wollen wir runter zum Frühstück?“ – „Geh du schon mal vor! Ich meditiere noch etwas und komme dann nach.“ Nora sieht ihrer Freundin nach, wie sie das Hotelzimmer in Richtung des üppigen Frühstücksbuffets verlässt. Sie setzt sich auf den kleinen Balkon und lässt die Frühlingsluft ihre Wunder vollbringen.

Nach einigen Minuten folgt sie Anna zum Frühstück. „Sieh mal da. Siehst du die Speckrolle, die die unter dem viel zu engen Shirt hat?“ So kann man doch nicht rumlaufen.“ Nora hebt kurz den Blick und schüttelt dann den Kopf. „Ist mir egal. Ich bin im Urlaub und die anderen interessieren mich gerade nicht.“ – „Ich mein ja nur. Ach komm schon, in der Schule haben wir doch in jeder großen Pause über alle gelästert. Macht doch Spaß.“ – „Anna, das ist 15 Jahre her. So bin ich einfach nicht mehr.“ Nora lächelt Anna an und widmet sich ihrem Obstsalat. Diese tut es ihr gleich. Annas Gesicht ist rötlich gefärbt. Sie setzt erneut an: „Also macht dir das gar keinen Spaß mehr?“ – „Schlecht über andere Leute reden, nur um über etwas zu reden? Nein, das macht mir keinen Spaß mehr. Aber wir können uns gern über unsere Pläne für heute unterhalten. Ich würde mir gerne die Altstadt ansehen. Der Marktplatz soll wunderschön sein. Kommst du mit?“ Anna strahlt und antwortet: „Ja, sehr gerne.“

Auf dem Marktplatz weiß Nora vor lauter Ständen nicht, wohin sie zuerst blicken soll. An einer Ecke steht eine Blumenverkäuferin, die nicht nur Blumen in den prächtigsten Farben anpreist, sondern selber ein sonnengelbes Kleid trägt, das an ein Rapsfeld im Spätsommer erinnert. Am Stand gegenüber stapeln sich die Schinken und Käse türmt sich zu einer Pyramide, die für jede Maus ein Paradies wäre. Etwas weiter werden leuchtend rote Gläser mit Marmeladen angeboten und inmitten dieses Labyrinths aus Sehenswürdig- und Köstlichkeiten tummeln sich Menschen, die scheinbar ziellos umherstreifen und doch ihre Einkaufskörbe füllen. Nora saugt die Energie dieses Platzes förmlich in sich auf und ist trotzdem ganz bei sich. Sie wartet bis sich kleine Wege ergeben und schlängelt sich so von Stand zu Stand. Dicht gefolgt von Anna. „Wahnsinn, was hier los ist.“, ruft sie dieser über die Schulter hinweg zu. Anna schließt zu ihr auf und sagt mit lauter Stimme, damit Nora sie versteht: „Ich hasse Menschen.“ Nora stutzt. „Du bist selber einer.“ Sie grinst. „Du weißt schon, was ich meine. Menschenaufläufe, Gewusel und so. Ich hab keinen Bock mehr. Ich hau ab.“ – „Ok, bis später.“

Nora ist Anna nicht böse. Die negative Stimmung kann sie an so einem sonnigen Vormittag sowieso nicht gebrauchen. Manchmal ist es besser, man geht getrennte Wege. Der Rest des Urlaubs wird zeigen, ob das auch für die Freundschaft der beiden gilt. In der Schule hatten sie viel Spaß zusammen. Aber das ist lange her und es ist vollkommen in Ordnung, wenn man mit 30 feststellt, dass die Schulzeit vorbei ist. Nora schlendert weiter über den Markt und lauscht dem Summen der Stadt. Man sollte Menschen nicht aus den falschen Gründen bei sich behalten, aber vielleicht aus den richtigen Gründen gehen lassen. Negative Einflüsse können auf Dauer nicht nur einen schönen Urlaubstag zerstören. Nora sieht das gelassen. Am Ende des Tages zählt sie.

Lebt leuchtend, Lena.

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