Verschwendung

Mit dem Nagel ihres Daumens kratzt sie über die Einkerbung ihres Teebechers. Das kleine Papierschild hängt am dünnen Faden und tanzt zu ihrem Rhythmus. Anina gehört zur Dekoration und fällt nicht weiter auf. Nur das tanzende Schildchen lässt darauf schließen, dass es sich bei Anina um mehr als ein Möbelstück handelt. Um sie herum wird die Erzählung langsam bunter, lauter. „Auf jeden Fall kam dann…“ Die Konzentration wieder auf die Teetasse lenken, gar nicht hinhören. Es ist sowieso Zeitverschwendung. Am großen Esstisch sitzen sechs Leute, die mehr oder weniger interessiert der Geschichte über den Freund einer Nachbarin der Schwägerin folgen. Keiner am Tisch kennt diesen Freund, aber alle wissen jetzt Bescheid: Letzte Woche Samstag hat er in seinem Garten ein neues Gartenhaus errichtet und der Lärm war offenbar zu groß für die zarten Gehörgänge der Frau Sowieso. Auf jeden Fall kam dann die Polizei. Danke für diese Information. Aninas Blick verfängt sich in den Augen ihrer Schwester Lara. Lara lächelt sie an, rollt kurz mit den Augen und widmet sich dann wieder ihrem Frühstück.

Beim Abwasch der größeren Teile stehen Anina und Lara nebeneinander vor dem Spülbecken. Anina scheppert mit den Tellern im Wasser und Lara nimmt jeden einzelnen in die Hände und trocknet ihn fast schon liebevoll mit den alten Leinenhandtüchern ihrer Mutter ab. „Wie kannst du nur so ruhig dabei bleiben…“, murmelt Anina. „Beim Abtrocknen?“, fragt Lara. Anina grinst. „Ja, dabei auch.“ Die Schwestern lachen, als Lara einmal mit der flachen Hand ins Waschbecken platscht und dadurch überall Schaumwölkchen auf der Küchenzeile landen. „Ich versuche einfach alles lustig zu sehen.“ – „Was ist denn lustig daran, wenn wir jede Woche beim Familienfrühstück mit den immer gleichen Problemen fremder Leute belastet werden?“ – „Erstmal nichts. Stimmt schon, aber irgendwie ist es doch auch ein bisschen wie Theater. Ich sehe das mehr wie eine Kulturveranstaltung. Dann muss ich mich auch nicht darüber ärgern, dass mir so wertvolle Zeit gestohlen wird.“

Anina lässt das dreckige Wasser den Abfluss herunterlaufen und denkt über den Satz ihrer Schwester nach. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht ist der Blick durch eine andere Brille richtig, nicht die Ich-verbringe-kostbare-Zeit-mit-meiner-Familie-Brille, sondern die Heute-erlebe-ich-wieder-lustige-Situationen-die-ich-normalerweise-gar-nicht-kenne-Brille. Sie wird es mal ausprobieren. Manchmal genügt es ja schon, die Linse neu scharf zu stellen, damit es dann doch kostbare Zeit mit der Familie wird.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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