Weihnachtsbaum

Guck mal, da steht ein Weihnachtsbaum“, ruft Mia ihr aus dem Sportwagen zu. Sonja sieht kurz von ihrem Handy auf und sagt zu ihrer Tochter: „Ja stimmt, aber schrei’ bitte nicht so rum. Du bist hier nicht allein.“ Dann widmet sie sich wieder der E-Mail an ihren Chef. „Ja, aber warum steht der denn da?“ Manchmal konnte ihre Zweijährige wirklich nerven. Sonja hat sie wirklich lieb, aber jetzt gerade muss sieeinfach nur für 10 Minuten in Ruhe die E-Mail verfassen. Der Chef hat sie ohnehin schon im Visier und begrüßt sie regelmäßig mit Sprüchen wie „Da kommt ja die Mutti. Lässt das Kind sie heute arbeiten?“ Sonja hatte die Hoffnung, dass ihre Tochter einschläft während des Spazierganges. Dieser Wunsch scheint sich nicht zu erfüllen. „Weihnachten ist vorbei, da werden die Tannenbäume raus gebracht und später von der Müllabfuhr abgeholt. Das weißt du doch. So ist es doch bei uns zu Hause auch.“, sagt Sonja nun freundlicher zu Mia, damit diese sich beruhigt.

Immer noch sehr hippelig, ihre Tochter kann kaum die Füße still halten, wodurch sich der Fellfußsack immer wieder bedenklich ausbeult, stellt diese fest: „Der steht an einer Bushaltestelle. Als wenn er Bus fahren will.“ – „Wer weiß, wer ihn da hin gestellt hat. Er wird ja in ein paar Tagen abgeholt. So wie die anderen Bäume in der Stadt auch.“

Die beiden setzen ihren Spaziergang fort. Das Handy hat Sonja mittlerweile eingepackt. Die Finger frieren ohnehin ab, wenn sie bei der Bedienung über den Bildschirm wischt. „Ist dir warm genug da vorne?“, fragt sie. „Ja Mama. Ganz kuschelig.“, antwortet Mia. Sie wirkt abwesend und verträumt. Beim Spielplatz angekommen, klettert sie aus dem Sportwagen und läuft zur Schaukel. Sonja hilft ihr hoch und gibt ihr einen kleinen Schubs. Ihre Tochter jauchzt vor Freude auf. Wie schön, dass sie sich über solche Dinge freuen kann. Sonja macht sich wieder an die Arbeit und kommt nun endlich dazu, die E-Mail abzuschicken. Gerade noch rechtzeitig. Die Nummer des Chefs taucht auf dem Display auf und nachdem sie abgenommen hat, poltert seine Stimme schon am anderen Ende der Leitung: „Frau Schmidt, wo bleibt der Abschlussbericht?“ – „Der müsste schon in ihrem Postfach sein.“, antwortet Sonja. „Oh ja, dann ähm danke.“, sagt der Chef und legt unvermittelt auf. Sonjas Herz schlägt schnell. Es ist alles in Ordnung, sagt sie sich leise selber und hofft, dass sich ihr Bauch gleich entspannt. Noch mit hohem Puls ruft sie ihrer Tochter zu, dass sie wieder zurück müssten. „Ok“, kommt es von Mia, die aber einfach weiter spielt. Sonja gibt ihr noch einen Moment Zeit, den braucht sie selber schließlich auch.

Auf dem Rückweg kommen die beiden wieder an der Bushaltestelle vorbei. „Mama, der Baum steht immer noch da.“ – „Der wird erst in ein paar Tagen abgeholt, bis dahin bleibt er wohl da stehen.“ – „Das ist traurig.“, meint Mia und sieht den Baum mitfühlend an. „Wieso?“, fragt Sonja. „Der Baum wartet auf den Bus und keiner nimmt ihn mit. Und außerdem muss er doch frieren, jetzt wo er nicht mehr so schön warm geschmückt ist.“ Kinderherzen sehen Dinge, die Erwachsene nicht mehr sehen können. Aber in diesem Moment versteht Sonja, dass es Mia sehr Ernst ist mit der Angelegenheit. Für sie ist das nicht einfach nur ein Weihnachtsbaum, der seinen Zweck schon erfüllt hat. Für sie hat dieser Baum eine Seele und Mia kann gar nicht begreifen, wie man einen Baum einfach an einer Bushaltestelle abstellen kann. „Wollen wir den Baum schmücken?“, fragt Sonja. „Oh ja.

Gemeinsam gehen die beiden nach Hause und holen älteren Baumschmuck aus noch älteren Kisten heraus, der auf dem Dachboden nur darauf wartet, in einem anderen Leben nochmal zum Einsatz zu kommen. Gerüstet mit den schönsten Teilen machen sich die beiden zurück zum Baum und schmücken ihn. Währenddessen kommen Passanten vorbei, die zwar irritiert scheinen, aber dann mit einem Lächeln weiter gehen. Sonja hat das Gefühl, gerade nicht nur ihrer Tochter eine Freude bereitet zu haben. Glück vermehrt sich, wenn man es teilt. Manchmal muss man nur auf das Summen der Personen um einen herum hören und schon stellt sich der Blick wieder scharf: Auf das ganz große kleine Glück.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich über Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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