Brücke

Die Brücke schwankt ganz leicht unter den Böen, hält aber wie selbstverständlich dagegen. Die Holzplatten biegen sich zwar etwas unter den Naturgewalten, denen sie ausgesetzt sind, trotzdem halten sie den Schritten der Passanten stand. Das rauschende Wasser des Flusses darunter verwandelt die Szenerie in eine seltsame Atmosphäre. Oben die Hängebrücke, die ihre Besucher sicher von der einen zur anderen Seite geleitet und unten das tobende und schäumende Wasser, das über etliche Felsen und Baumstämme springt, als wären sie gar nicht vorhanden. Oben die warme Sonne, die auf den eingecremten Gesichtern glänzt und unten das kalte Nass.

Jeden Morgen überquert Lille die Brücke. Seit sie denken kann. Äußerlich hat die Brücke ihr Gewand kaum verändert, wenngleich Restaurationen durchgeführt wurden. Lille geht über die Holzbohlen und hält ihr Gesicht in die Sonne, die noch von einem nebligen Dunst zurückgehalten wird. Ihr Kleid schleift über den Boden. Kurz überlegt sie, ob sie es anheben sollte. Sie entscheidet sich dagegen – zu viele Kameras sind auf der anderen Seite auf sie gerichtet. Ihre Haare sind zu einem lockeren Dutt zusammen gebunden. Kleine Strähnen fallen über ihre rosigen Wangen. Zu Schulzeiten ist sie hier verschwitzt mit dem Fahrrad rüber gerast – entgegen aller Verbotsschilder. Heute lässt sie sich Zeit. Es erwartet sie der gleiche Junge wie vor 15 Jahren auf der anderen Seite. Diesmal trägt er keinen Fahrradhelm, sondern einen Zylinder. Passend zu ihrem weißen Kleid mit einem kleinen weißen Blumengesteck auf der Krempe. Lille setzt weiter einen Fuß vor den anderen. Die Mitte der Brücke ist erreicht. Symbolisch wird sie sie heute zum letzten Mal überqueren. Ihr Herz klopft in ihrer Brust, aber sie spürt nur das Vibrieren der Brücke. Als würde sich ihre Anspannung darauf übertragen und sie weiter voran schicken. Voran in ihre Zukunft. Voran zu ihrem zukünftigen Ehemann.

Die Traurede am Fuß der Brücke rührte Lille zu Tränen. Sie ist froh, dass das Rauschen des Flusses ihre Seufzer überdeckt hat. Ein Kuss und der Bund ist besiegelt. Lille grinst. So wie sie es als kleines Mädchen getan hat. So wie er sie kennt. Er grinst zurück. „Eins noch“, sagt er. Er nimmt ihre Hand und geht gemeinsam mit ihr zurück zur Mitte der Brücke. „Ohne diesen Treffpunkt wären wir nicht wer und wo wir heute sind.“ Er holt ein kleines Schloss aus der Tasche. Ihre Namen und das heutige Datum sind darauf eingraviert. Der Schlüssel steckt. „Sollten wir Zweifel bekommen, lass uns hierher zurückkehren und uns an unsere Anfänge erinnern, die uns für immer verbinden werden.“ Sie nimmt das kleine grüne Schloss in die Hände und öffnet es. Gemeinsam schließen sie es an der Brücke fest. Den Schlüssel werfen sie in das wilde Wasser.

Lebt leuchtend, Lena.

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