Morgenyoga

Wie viele Vögel das wohl sein mögen, denkt sich Andrea und lauscht mit geschlossenen Augen dem Zwitscherkonzert auf der Wiese. Sie nimmt noch etwas anderes wahr. Das tiefe Brummen der Hummeln um sie herum hat eine beruhigende Wirkung. Sie streckt vorsichtig die Hände aus und fühlt die Spitzen der Grashalme, die frisch gemäht duften. Unter dem schattenspendenden Apfelbaum fröstelt sie leicht , verharrt aber in ihrer entspannten Liegeposition. Viel zu schön ist doch der seltene Moment der Ruhe. „Komme nun zurück in das Hier und Jetzt. Atme noch einmal tief ein und beginne dann, langsam deine Finger zu bewegen, die Hände auszustrecken und auch die Füße nochmal bewusst von dir weg zu strecken. Mache dir jetzt bewusst, wie entspannt dein Körper und dein Geist gerade sind und erinnere dich daran, dass du jederzeit in diesen Zustand zurückkehren kannst.“, klingt es aus ihrem Handy. Die Yoga-App schließt sich von allein und Andrea seufzt kurz, bevor sie sich aufsetzt und dann die Hände gen Apfelbaum streckt. Wie lange hatte sie gezögert, endlich ihre private Yogarunde im Garten zu starten. Viel zu groß und im Nachhinein auch unbegründet war ihre Sorge, was ihre Nachbarn wohl sagen würden, wenn sie morgens anfangen würde, in dem Reihenhausgarten die Yogamatte auszubreiten.

Das feuchte Gras unter ihren nackten Füßen klebt sich zwischen ihren Zehen fest, aber die Luft verrät, dass auch heute einer dieser angenehm warmen Frühlingstage wird. Während sie über die kleine Terrasse zurück zum Haus geht, fällt ihr Blick auf die Fingerabdrücke auf der Innenseite der Terrassentür. Ihr Sohn hat offenbar wieder davor gestanden, und ihr zugesehen. Sie schmunzelt und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn als sie die Küche betritt. Er klatscht als Antwort in die Hände. „Guten Morgen mein Schatz, wie hast du geschlafen?“, richtet sich Andrea dann an ihre Tochter Mia. Ein „Mhm“ muss wohl als ehrlicher Versuch gewertet werden, zu kommunizieren. Einige „Mhms“ später nach dem Frühstück wartet Andrea mit ihrem Sohn im Flur und ruft nach oben: „Mia, was machst du denn schon wieder so lange?“ – „Komme gleich.“ – „Das sagst du schon seit 10 Minuten.“ – „Ich brauche nicht mehr lang.“ – „Dein Bus fährt gleich ohne dich.“ – „Ja und?“ – „Wie, ja und? Beeil dich bitte.“ – „Bin gleich da. Und sonst kannst du mich doch fahren.“

Eine Feststellung, keine Frage und ganz sicher keine Bitte. Andrea spürt, wie ihre Nerven anfangen zu flattern. Die Kühnheit ihrer Zwölfjährigen treibt sie nicht zum ersten Mal in den wortwörtlichen Wahnsinn. „Warte kurz hier.“, flüstert sie ihrem Sohn ins Ohr, der nickt. Wenigstens der hält sich noch an ihre Ansagen. Sie steigt die Treppe hoch und mit jeder Stufe brodelt ein neuer böser Gedanke durch ihren Kopf, der oben angekommen an Temperatur dazu gewonnen hat. „Was machst du denn da? Sind das etwa noch Hausaufgaben?“ Mia zuckt zusammen und versucht, das Mathebuch unter ihren Händen zu verstecken. „Das ist nicht dein Ernst, oder?“ – „Doch?“, fragt Mia und blickt ihre Mutter mit großen Augen an. Andrea sieht ihr an, wie unangenehm ihr die Situation ist. Aber wie kann es denn sein, dass ihre Tochter so chaotisch und unorganisiert ist?Mache dir jetzt bewusst, wie entspannt dein Körper und dein Geist gerade sind und erinnere dich daran, dass du jederzeit in diesen Zustand zurückkehren kannst. Andrea atmet tief ein und fragt: „Wie viele Aufgaben sind es denn noch?“ – „Nur noch eine.“ – „Weißt du, wie es geht?“ – „Ja, ich habe es einfach vorher nicht geschafft.“ – „Gut, wir machen es so: Du machst jetzt ordentlich deine Aufgabe und dann fahre ich euch beide mit dem Auto. Heute nach der Schule setzen wir uns hin und machen einen Plan. Es ist doch auch für dich schöner, wenn du nicht alles kurz vor knapp erledigen musst, oder?“ Mia lächelt und nickt. Sie wischt sich eine Träne aus dem rechten Auge. „Mama?“ – „Ja?“ – „Danke.“

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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