Schicksal

Das Wasser plätschert ganz leise und sanft am Ufer, fast als würde es die Berührung mit dem feuchten Sand genießen. Das Moos darüber bewegt sich immer wieder zurück in seine eigentliche Position und beugt sich dann doch der sanften Wellenbewegung. Sie ist verzaubert von dem Anblick, genau wie vor 40 Jahren. Das erste Mal, als sie hier war, war sie 16 Jahre alt. Das Leben lief damals an ihr vorbei, ohne dass es Zeit in Anspruch genommen hätte. Nur an diesem einen Tag stand die Zeit still, als sie genau hier vor 40 Jahren am Ufer saß. Mit Johannes, oh wie verliebt sie war. Sie lächelt, während sie den Strom der Erinnerung durch ihren Körper fließen lässt und sich ihre Wangen vor Hitze erwärmen, obwohl draußen keine 10°C herrschen.

Einmal im Jahr kommt sie her, seit 40 Jahren und genießt die Stille noch einmal. Johannes hat sie danach nie wieder gesehen, aber dieser Tag lebt in ihrem Herzen weiter. Der Wind rauscht seicht durch die Baumwipfel und Monika kann die Tannenzapfen erkennen, die sich bedenklich bewegen. Ein Schwan schwimmt direkt auf sie zu, offensichtlich hat er keine Angst vor Menschen. Monika kramt in ihrer Ledertasche und findet die Brötchentüte: Vor lauter Aufregung konnte sie das Brötchen sowieso nicht essen. Der Schwan nimmt die Krümel gern, auch einige Enten schwimmen näher, lassen zunächst aber den majestätischen Schwan gewähren.

Sie hört ein Geräusch hinter sich. Die Zweige, die den Weg zum Ufer verbergen, biegen sich zur Seite und ein etwa 20-Jähriger betritt die Uferböschung. Er sieht ihr in die Augen: „Sind sie Monika?“, fragt er sie. Monika nickt und gibt dem jungen Mann die Hand: „Ja, Guten Tag.“ – „Guten Tag, wie schön, dass ich sie gefunden habe. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“, sagt er und gibt ihr ein altes, schwarzes Notizbuch. „Ich habe die Stelle für sie markiert.“

Ein kleiner Klebezettel markiert eine Stelle in dem Buch, das Monika jetzt aufschlägt. Auf der Seite findet sie eine exakte Bleistiftzeichnung der Uferböschung und rechts daneben eine Karte, auf der die Böschung markiert ist. Alles ist vergilbt und etwas verwischt, aber man erkennt eindeutig, dass sie gerade genau dort steht, wo das Kreuz eingezeichnet ist. „Ich verstehe nicht…“, fängt sie an zu sprechen, während sie eine Seite umblättert. Mehr in Gedanken verloren, als bewusst. Dort steht nur eine Bleistiftnotiz: „Monika, Stelle am See. Für immer.“

Dahinter eine Nummer. Soll das die Festnetznummer ihrer Eltern von damals sein? Sie ist es nicht, unterscheidet sich aber nur in einer Ziffer. Monika blickt den jungen Mann an, der ihr zulächelt: „Mein Großvater zeichnet gern und als ich an der Kunsthochschule angenommen wurde, bot er mir an, einmal seine alten Kladden nach Inspiration durchzusehen. Was soll ich sagen? Meine Großmutter heißt nicht Monika. Also habe ich ihn gefragt. Er erzählte mir von einer Sommernacht vor vielen Jahre und wie enttäuscht er war, dass Sie ihm eine falsche Nummer gegeben haben.“ – „Ich – also ich habe mich gefragt, warum er sich nie gemeldet hat. Seit 40 Jahren komme ich einmal im Jahr her. Ich habe meinen Frieden damit gemacht, Johannes aber immer als meine erste große Liebe in Erinnerung behalten.“, sagt sie. Sie hört ein Knacken hinter sich. Eine Hand schiebt die Äste ein weiteres Mal zur Seite. Ein Herr ihren Alters steht vor ihr.

Sie hat ihn noch nie gesehen, erkennt ihn aber sofort. Seine Augen haben sich nicht verändert. Ihr Herz macht einen Hüpfer und sie bekommt erneut rosige Wangen. „Seit 40 Jahren will ich dir genau das sagen und jetzt sagst du mir, dass ich Hornochse die falsche Nummer aufgeschrieben habe?“, sagt er zu ihr.

Monika lauscht dem Summen des Windes in den Baumwipfeln und traut weder ihren Augen noch Ohren. Manchmal lohnt es sich, jemandem sofort zu sagen, wie viel er einem bedeutet. Man kann nicht wissen, durch welchen Zufall, welches Missverständnis oder warum auch immer man die Chance später nicht mehr hat.

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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