Vortritt

Der Tee ist heiß, aber tut gut. Was sie sich dabei wohl gedacht hat: Einen Spieleabend mit ihren engsten Freunden, obwohl sie doch morgens unerbittlich um sechs Uhr von ihren Zwillingen geweckt wird. Ein Schluck nach dem anderen kehren ihre Lebensgeister und auch ihre Stimme zurück. ‚Jede Minute hat sich gelohnt’, denkt sich Nathalie und seufzt kurz auf als ihre dreijährige Tochter aus dem Nebenzimmer ruft: „Mamahaa“ – „Ich komme Süße“, antwortet Nathalie und geht ins Wohnzimmer. „Was ist das?“, fragt ihre Tochter, während ihre Schwester, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht, bereits den Karton mit dem Spiel von gestern Abend untersucht.

„Das haben wir gestern gespielt.“, erklärt Nathalie und nimmt den Karton, um ihn wieder im Schrank zu verstauen. „Können wir das auch spielen?“, ihre eine Tochter guckt sie an, während die andere sich schon auf den Weg zum Schrank macht. „Wer hat denn gestern Abend gewonnen?“, fragt diese. „Susanne“, antwortet Nathalie. Susanne hat sich gestern so über ihren Sieg gefreut. Nathalie schmunzelt. Monopoly kann die Gemüter wirklich erhitzen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sie selber heute morgen heiser aufgewacht ist? Susanne hat es zur Zeit nicht leicht, einen Sieg konnte sie gut gebrauchen. Mitleid hilft meistens nicht in Notlagen. Mitgefühl schon. Und das hat Susanne gestern kollektiv erhalten, ohne dass sie es überhaupt bemerkt hat:

„Stopp!“, schreit Mario und ruft: „Miete!“ Susanne blickt auf ihren Geldstapel und schluckt. „Lässt sich wohl nicht ändern. Hier bitte.“, sie überreicht die Geldscheine und Nina bemerkt einen Ausdruck in Susannes Augen, der an Aufgeben erinnert. „Nicht aufgeben Susi! Und sonst gilt die Devise: Pech im Spiel, Glück in der Liebe.“, sagt Nina. Susanne zuckt mit den Achseln. Während die sechs Freunde anstoßen, wechseln Nina und Nathalie einen Blick. Unter dem Tisch wird die Männerecke mit einem sanften Fußtritt und einer Kopfbewegung auf den still vereinbarten Plan eingeschworen: Heute wird Susanne das Spiel gewinnen. Die Monopoly-Runde wird fortgesetzt und das Spiel gewinnt an Dynamik. Schwierige Situationen kann Susanne durch kluge Entscheidungen für sich gewinnen. Ihr Gesichtsausdruck verrät, wie ihr Selbstbewusstsein wächst. Als Letzter gibt sich Mario zerknirscht geschlagen. Mittlerweile leicht angesäuselt sitzt Susanne auf ihrem Stuhl und lächelt in sich herein.

Nathalie lässt die Situation Revue passieren und fragt sich, ob es richtig war, Susanne bewusst gewinnen zu lassen. Im Grunde wie ein Kind – so, wie sie ihre Töchter auch hin und wieder gewinnen lässt. Aber genau das ist der Punkt: Es macht weder Spaß immer zu verlieren, noch immer zu gewinnen. Und Susanne verliert momentan zu viel und zu oft. Man muss auch mal gewinnen, um daran erinnert zu werden, dass man zu den Gewinnern gehören kann.

Ihre Freundin ist gestern Abend glücklich nach Hause gegangen. Das ist, was zählt. Während Nathalies Töchter beginnen „Monopoly“ nach ihren eigenen Regeln zu spielen, summt Nathalie vor sich hin. Manchmal sollte man anderen den Vortritt lassen.

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert