Aufstehen

Steh auf!“, flüstert ihr jemand ins Ohr. Sie sieht sich um. Es flimmert vor ihren Augen. Ist sie? Oh nein, sie ist gestolpert. Mit einem vollen Tablett. Hoffentlich hat sie niemand gesehen. Achja, der Typ, der ihr gerade hoch hilft, hat sie gesehen. Mist. „Alles ok, hast du dir weh getan?“ – „Es geht schon, danke.“, antwortet sie und rückt ihre Frisur zurecht. Dann sammelt sie die Scherben vom Boden auf. Nur nicht anfangen, zu weinen. Nicht weinen! Du schaffst das Natascha, durchhalten!

„Warte ich helfe dir.“, bietet er an und kniet sich neben sie. „Mach dir keinen großen Kopf, du bist nicht die erste, die stolpert und wirst auch nicht die letzte sein.“, flüstert er wieder, so dass nur sie es verstehen kann. Um sie herum sammeln sich langsam Menschen an, die von oben auf die kniende Natascha herabschauen. „Können wir heute noch mit dem Kaffee rechnen, oder dauert es noch ein paar Tage?“, fragt eine Frau mittleren Alters im grauen Kostüm. Neben ihr steht ein Mann, der die Nase rümpft und anmerkt: „Und müssen wir jetzt etwa den ganzen Vormittag diesen Anblick ertragen?“ Er deutet auf Nataschas strahlend weiße Bluse, die nun von einem großen Kaffeefleck verziert wird.

„Ganz ruhig weiter arbeiten. Die werden nicht verdursten.“, flüstert der Helfer wieder. Wer ist der Typ? Warum hilft er in dieser gelinde gesagt feindlichen Umgebung? So hatte sich Natascha ihren ersten Arbeitstag nicht vorgestellt. Sie hatte gerüchteweise von dem Klientel gehört, dass im Hotel Mera verkehrt, allerdings nicht damit gerechnet, gleich am ersten Tag so nah auf Tuchfühlung zu gehen und sich herablassende Kommentare anzuhören.

Sie sieht den Kerl, der ihr hilft von der Seite an: Jeans, weißes T-Shirt, teure Uhr. Der arbeitet nicht hier. Alle Scherben sind aufgesammelt und Natascha beeilt sich, zurück in die Küche. Schnell wechselt sie ihre Bluse und versucht, sich zu konzentrieren. Einatmen. Ausatmen. In der Ruhe liegt die Kraft. Sie nimmt ihren Mut zusammen und macht sich auf den Weg zurück in den Empfangsbereich, in dem ihr eben das Unglück passiert ist. Mit einem Lächeln auf den Lippen bietet sie den Kaffee an und bahnt sich ihren Weg durch die noch größer gewordene Menge.

Als das Tablett fast leer ist, fragt sie jemand von der Seite: „Darf ich den letzten Kaffee haben?“ – „Selbstverständlich“, Natascha nimmt die perlweiße Untertasse in die Hand, dreht sich zu der Stimme und erkennt den Typen im weißen T-Shirt. „Alles wieder ok?“, fragt der sie. „Ja, danke, nur echt peinlich die ganze Aktion.“ – „Och, ich hab schon schlimmeres gesehen. Du hast das gut gemacht, sehr souverän, wie du die Ruhe bewahrt hast. Du bist neu hier, oder?“ – „Ja, so offensichtlich?“ – „Nein wirklich nicht. Ich kenne die Mitarbeiter aber eigentlich alle.“ – „Ok, dann kennst du mich ja jetzt auch. Ich bin die tollpatschige mit Kaffeeflecken auf der Bluse. Und jetzt sollte ich weiter arbeiten.“

Natascha geht mit dem leeren Tablett zurück in die Küche und kommt mit Häppchen darauf wieder zurück. Der Empfang ist noch lange nicht beendet. Sie sieht den Typen mit ihrem Chef sprechen. Ihr Chef ist der Restaurantleiter, dem sie direkt unterstellt ist und ihr jetzt zuwinkt. Ein deutliches Zeichen, dass sie offensichtlich doch für zu großen Unmut unter den betuchten Gästen gesorgt hat. Sie geht langsam, aber mit erhobenen Kopf zu ihm. Ja, sie ist gestolpert, aber wenn sie dafür jetzt Ärger bekommt, sagt das mehr über das Hotel als über sie aus.

„Natascha, Herr Mera hat mir gerade berichtet, dass sie vorhin gestolpert sind und die Situation mit Würde gemeistert haben. Sehr gut, ich weiß, wie schwer es am Anfang ist, vor allem, wenn die Gäste einen noch beschimpfen. Gut reagiert. Weiter so!“ Herr Mera? Natascha ist verwirrt. Der Typ im weißen T-Shirt grinst: „Du hast nicht nach meinem Namen gefragt. Ich bin Florian Mera. Meinem Vater gehört das Hotel.“ Natascha läuft rot an. Ihre Hände beginnen zu schwitzen und sie ist verunsichert. Florian war nett, aber wenn er praktisch ihr Chef ist, ist die Geschichte natürlich sehr heikel. Als hätte er ihre Gedanken erkannt: „Keine Sorge, ich bin weder dein Chef, noch werde ich das Hotel irgendwann übernehmen oder so. Ich verstehe mich nur gut mit dem Restaurantleiter und verbringe viel zu viel Zeit auf diesen Empfängen.“

Nataschas Puls beruhigt sich langsam. Sie lächelt und nickt, während sie sich bereit macht, weiter ihrer Aufgabe nach zu gehen. Sie dreht sich um, als er sie fragt: „Hast du Lust nach deiner Schicht einen Kaffee mit mir zu trinken?“ Sie grinst und geht summend weiter. Ihr hat mal jemand gesagt, Männer wollen jagen. Erstaunlich, wie sich ein erster Arbeitstag entwickeln kann.

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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