Einfluss

Lara kann es nicht mehr hören und auch nicht mehr sehen: An jeder Ecke erteilen ihr selbsternannte Lebenstrainer Ratschläge, die auch noch im gleißenden Sonnenlicht funkeln, aber mit der Realität – ihrer Realität – nichts zu tun haben.

Und dann? Dann gibt es in dem ganzen heiligen, digitalen „Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt“-Chor dieses eine Totschlagargument, das mehrstimmig, aber sehr tonal aus den Lautsprechern dringt:

Ist dir eine Sache wirklich wichtig, nimmst du dir auch die Zeit dafür.

„Ja, danke auch.“, denkt sich Lara und wiegt ihre sechs Monate alte Tochter in den Armen. Sie ist um fünf aufgestanden, hat sich angezogen, die Zähne geputzt und ist direkt auf die Yogamatte gegangen. Ein bisschen Zeit für sich, bevor das Baby aufwacht und sie wieder zu hundert Prozent Mama ist. Doch schon beim herabschauenden Hund im allerersten Sonnengruß, knackte das Babyfon. Soviel dazu: Ihre Tochter ist wach. Es ist zehn nach fünf und entgegen aller Routine, die sie bisher entwickelt hat, lässt sie sich auch nicht mehr überzeugen, doch weiter – wie gewohnt – bis um sieben zu schlafen.

Also hält Lara ihre Tochter im Arm, während sie den nun hektisch zubereiteten Kaffee trinkt. Es ist noch dunkel. Sie geht mit ihrer Tochter ins Schlafzimmer und zieht sich etwas Wärmeres an. Ihre Tochter quengelt, während Lara sich ihre Hose anzieht. „Hey Mäuschen, Mama ist doch da. Musst nicht weinen.“, sagt sie. Ohne Erfolg, das Quengeln wird jetzt energischer. „Ich muss mich doch nur anziehen. Ich beeil mich doch schon um Himmels Willen.“

Mit Schweißperlen auf der Stirn, obwohl ihr eben noch kalt war, kommt Lara mit ihrer Tochter zurück in die Küche und setzt sich an den Tisch. Was nun? Lara wollte etwas Zeit für sich. Jetzt ist sie genervt, obwohl sie das gar nicht sein will. Es ist vollkommen in Ordnung, dass ihre Tochter wach ist. Sie ist ein Baby. Lara will ihrem Säugling keine Vorwürfe machen.

Aber die kleine Stimme in ihrem Ohr, die verdächtig nach den Stimmen klingt, die regelmäßig aus dem Fernsehgerät kommen, flüstern ihr genau das zu. Wenn du Zeit für dich haben willst, dann nimm dir die Zeit! Du musst dich auch um dich selbst kümmern, um eine gute Mutter zu sein! Steh morgens um fünf auf, das wird dein Leben verändern! Schreib Tagebuch! Starte morgens nicht mit Kaffee! Nimm dein Handy nicht sofort in die Hand, wenn du aufgestanden bist! Trink viel Wasser! Die Liste der Ratschläge ist unglaublich lang. Und Lara ist sich sicher: Alle haben ihre Berechtigung. Sonst wären die Stimmen in ihrem Kopf jetzt auch nicht so fies.

Und sie würde sich nicht morgens um viertel vor sechs hundeelend und unendlich müde fühlen. Wie eine Versagerin. Lara hätte gern eine Morgenroutine, um glücklicher zu sein und dann in letzter Konsequenz auch eine bessere Mutter sein zu können. Denn das ist ihr Hauptfokus. Ihre Tochter ist das Wichtigste in ihrem Leben. Und dieses Ziel, ihre Tochter glücklich zu machen und gut zu versorgen, kann sie doch (angeblich) nur erreichen, wenn sie sich Zeit für sich nimmt. Jetzt ist sie extra zwei Stunden früher aufgestanden und … Pustekuchen.

Lara runzelt die Stirn. Ihre Tochter schmiegt sich an ihre Brust und schließt die Augen. Deshalb geht Lara leise mit ihr zurück in das Schlafzimmer und versucht sie abzulegen. Schon während Lara die Hände von dem Babykörper löst, beginnt ihre Tochter zu weinen. Lara nimmt sie wieder auf den Arm und tröstet sie. „Ich hab dich so lieb. Alles wird gut.“ Zu zweit sitzen die beiden auf dem Bett.

„Wenn dir etwas wirklich wichtig ist, dann nimmst du dir die Zeit dafür.“ – Immer wieder hallt dieser Satz in Lara nach. Wichtig ist ihre Tochter. Aber es ist auch wichtig, dass Lara nicht sauer auf sie ist, nur weil sie nicht schlafen kann. So ist das eben bei Babys: Der Alltag ist nicht berechenbar. So viel hat Lara mittlerweile auch verstanden. Lara fühlt sich hilflos: Die „lebensverändernden“ Tipps verändern ihr Leben. Aber nicht zum Positiven, sondern zum Negativen. Und das nicht etwa, weil die Tipps schlecht wären, sondern, weil sie Lara verwirren. Lara hat das Gefühl nur noch nach einem bestimmten Standard leben zu dürfen.

Das realisiert sie, während sie ihre Tochter in den Schlaf summt. Es ist ok, wenn nicht alles perfekt läuft. Sie hat eine gesunde Tochter. Sie hat einen gesunden Mann und sie ist selber gesund. Lara kann sich für so viele Dinge in ihrem Leben glücklich schätzen. Die „perfekte“ Morgenroutine wird kommen oder nicht. Hauptsache ist, dass all das für Lara und ihre Familie passt. Jeder muss seinen eigenen Weg zum Summen finden. Ratschläge und Tipps sind eben nur genau das: Ratschläge und Tipps. Es sind keine Vorschriften und Gesetze, die es zu befolgen gilt. Lara legt ihre schlafende Tochter ab und lächelt. Während sie ihr Frühstück zubereitet, summt sie immer noch das Schlaflied von eben. Das beruhigt sie. Auch morgens um halb sieben. Wer sagt denn, dass das nicht ein wunderbares Morgenritual sein kann?

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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