Arbeitsweg

Auf dem Weg zur Arbeit zieht Mona ihre Kapuze tief in ihr Gesicht. Der Wind bläst ihr von vorn entgegen, so dass ihre Augen anfangen, zu tränen. „Entschuldigung, würden Sie mir bitte sagen, wo ich zur Tafel komme?“, fragt sie ein älterer Herr. Mona bleibt stehen und lächelt. „Sie müssen einfach die Straße hier runter gehen und dann am Ende rechts abbiegen. Dann ist da ein kleiner Hof, da sind sie richtig.“ – „Vielen Dank“, antwortet der Mann und setzt sich schwergängig in Bewegung. Mona war das letzte Mal auf einem Schulausflug bei der Tafel und kann sich noch an die Schlange der Menschen erinnern, die sehr lange für Lebensmittel angestanden haben. Als Achtjährige taten ihr die oft alten und kranken Leute zwar Leid, sie konnte aber keinerlei Bezug zu ihnen herstellen und hat es bis heute auch nicht wieder probiert.

Die Kapuze wieder tief ins Gesicht gezogen, macht sich Mona in die entgegengesetzte Richtung wieder auf zur Arbeit. Den Mann hat Mona schnell wieder vergessen.

Bei milderen Temperaturen und nur noch einer leichten Brise trifft Mona am nächsten Morgen wieder auf den Mann, während sie zur Arbeit geht. Sie lächelt ihn an. „Haben Sie den Weg gestern gefunden?“, fragt sie im Vorbeigehen. Aus Höflichkeit. Für ein richtiges Gespräch hat sie gar keine Zeit. „Wie bitte? Kennen wir uns?“ – „Nein, also doch, ich habe Ihnen gestern den Weg erklärt.“ – „Oh… Oh ja, jetzt wo sie es sagen.“ Mona dreht sich zum Weitergehen, als der Mann sie fragt: „Entschuldigen Sie, würden Sie mir bitte sagen, wie ich zur Tafel komme?“

Mona bleibt stehen und sieht dem Mann in die Augen. Will er sie ärgern? Nein, es wirkt eher so, als wüsste er den Weg wirklich nicht mehr. Unentschlossen, was sie jetzt sagen soll, verweilt sie einen Moment, schüttelt kurz den Kopf, hebt die Achseln und sagt: „Wissen Sie was, ich zeige es Ihnen.“ – „Oh das ist aber ausgesprochen freundlich von Ihnen.“, antwortet der ältere Herr und hakt sich in den von Mona angebotenen Arm ein. Gemeinsam machen sich die beiden auf den Weg.

Im Gebäude der Tafel brennt Licht und es stehen einige Menschen in der Schlange im Gebäude. Das kann Mona von draußen sehen. „So, da wären wir. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“ – „Ach wären Sie noch so freundlich, mich hineinzubegleiten? Meine Freunde werden vor Neid erblassen, wenn ich mit einer so hübschen Begleitung ankomme.“ Mona muss grinsen. „So machen wir das. Ich bin ohnehin schon zu spät, da machen fünf Minuten auch nichts mehr aus, oder?“ – „Nein gar nichts, lassen Sie sich das von einem alten Tattergreis sagen, der sein Leben die meiste Zeit fremden Zeitplänen hinterhergerannt ist. Es ist viel schöner, mal was anderes zu machen.“

Im Gebäude ist es angenehm warm und es duftet nach Kaffee. „Willi, was machst du denn hier?“, fragt eine Frau in Monas Alter, die offensichtlich zu den Ehrenamtlichen gehört. „Guten Tag Sarah, sie dir mal meine Begleitung an. Habe ich nicht ein unverschämtes Glück heute?“, zwinkert er Sarah zu. „Wahnsinniges Glück Willi. Möchtest du einen Kaffee? Dann unterhalte ich mich kurz mit deiner Begleitung.“ Während sie ihm einen Kaffeebecher in die Hand gibt und ihn auf einen Stuhl an der Wand platziert, nimmt Sarah Mona beiseite und fragt: „Kennen Sie Willi?“ – „Nein, er hat mich gestern nach dem Weg hier her gefragt. Und heute nochmal, obwohl ich es gestern erklärt habe. Deshalb dachte ich mir, ich zeige ihm den Weg, damit er alles findet.“

„Das ist sehr nett von Ihnen. Willi hat viele Jahre hier geholfen und kommt von Zeit zu Zeit vorbei, um seine Freunde zu besuchen. Willi lebt seit vier Jahren in einem Pflegeheim und ist an Demenz erkrankt. Er denkt, dass er hier immer noch als Ehrenamtlicher arbeitet. Deshalb steht er häufig schon auf, bevor ihn die Pflegekräfte wecken und macht sich dann auf den Weg. Er kennt den Weg aber nicht mehr und verläuft sich ständig. Gestern ist er nicht angekommen. Nur zwei Pflegekräfte, die nach ihm gesucht haben.“ – „Oh, das ist ja furchtbar. Das erklärt, warum er mich nicht erkannt hat.“ – „Machen Sie sich nichts draus. Ich rufe jetzt im Pflegeheim an und die holen ihn dann ab. Vielen Dank fürs Herbringen. So kann ihm wenigstens nichts passieren.“ – „Und was passiert dann?“ – „Naja, er wird abgeholt und wahrscheinlich spielen wir das Spiel noch ein paar Mal. Die Pfleger haben einfach zu viel zu tun und deshalb kann er morgens so einfach verschwinden. Wenn er etwas länger wach ist, weiß er, dass er nicht einfach so gehen darf. Aber morgens um fünf ist es schwierig für ihn.“

Mona verabschiedet sich von Willi und fragt sich, ob oder eher wie oft sie ihn noch auf der Straße wieder sehen wird. Dann kommt ihr eine Idee: „Willi, was würden Sie davon halten, wenn wir morgen gemeinsam Frühstücken? Gleich morgens um fünf. Ich komme zu Ihnen und gehe danach zu meiner Arbeit. Frühstücken kann man eh besser zu zweit. Stellen Sie sich mal vor, was sie da alles Ihren Freunden erzählen können.“, lächelt Sie ihn an. Willi ist einverstanden und die Pflegekräfte auch. Sie freut sich auf ihre Verabredung. Manchmal muss man genauer hinsehen und dann seinem Instinkt folgen.

Am nächsten Morgen steht Mona summend um fünf Uhr vor der Tür zum Pflegeheim. In den Händen eine Brötchentüte und zwei Becher Kaffee.

Lebt leuchtend, Lena

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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