Fokus

Direkt unter der Wasseroberfläche dreht sich Dalia auf den Rücken und beobachtet mit geöffneten Augen die Sonne über ihr. Zwischen ihr und der unscharfen Leuchtkugel ist nur Wasser. Wasser, das ihre Ohren taub macht und ihre Gedanken beruhigt. Wenn sie nicht unter Wasser wäre, würde sie jetzt tief einatmen. Stattdessen schließt sie kurz die Augen, um das Bild der Stille mental zu fotografieren, und taucht dann auf.

Es dauert einen Augenblick, bis ihre Sicht wieder klar ist. Dann fokussiert sie nicht nur ihren Blick auf das vor ihr liegende Ufer, sondern auch ihren Geist auf das etwas weiter entfernt liegende Ziel. Jeden Morgen zelebriert sie dieses kleine Ritual am Strand, um in ihren Tag zu starten. Ihr Fokus ist wesentlich – hätte sie ihn nicht oder würde sie unkonzentriert, könnte sie ihr Ziel auch gleich an einen Fahnenmast binden und zusehen, wie es durch wechselnde Winde in die eine oder andere Richtung gezerrt wird. Nein, Dalia bleibt bei sich. Sie ist fokussiert bei jedem Minischritt, der auf dem Weg zum Ziel liegt. Finanzielle Unabhängigkeit – jetzt und in Zukunft. Dalia muss mit ansehen, wie ihre Mutter durch die Scheidung mit einer winzigen Rente über die Runden kommen muss. Eigene Rücklagen brauchte diese vermeintlich nie. So etwas wird Dalia nicht passieren. Sie plant Großes und arbeitet immer weiter.

Zwischenzeitlich hat sie das Ufer erreicht und blickt auf ihr Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit aus ihrem Büro. Mit einem Augenrollen ruft Dalia zurück: „Was gibt es denn? Ich war schwimmen, das wisst ihr doch.“ – „Du solltest schnell herkommen, das musst du dir selber ansehen.“, antwortet ihre persönliche Assistentin. Jetzt atmet Dalia wirklich tief durch und macht sich mit ihren feuchten Schwimmsachen auf dem Arm auf den Weg zu ihrem Auto.

Im Büro angekommen erwartet sie ihre Assistentin bereits neben dem Fahrstuhl. „Frank war vorhin da und hat das hier abgegeben.“, sie hält einen Briefumschlag hoch. „Hat er gesagt, was da drin ist?“ – „Nein, aber er war komisch. Also er hat mir – oder eher uns allen – alles Gute gewünscht und ist dann gegangen.“ – „Ok, gib mal her!“ Dalia öffnet den Umschlag. Im Empfangsbereich herrscht Stille, obwohl sich mittlerweile alle zehn Mitarbeiter eingefunden haben. Neben einem Stapel Dokumenten enthält der Umschlag einen handschriftlichen Brief. Dalia liest ihn. Liest ihn nochmal und blickt sich im Raum um. Passiert das gerade wirklich?

Der Brief:
„Liebe Dalia,

dass du meine Nr. 1 im Büro bist, muss ich dir nicht sagen. Und natürlich wissen wir beide, dass es Zeit für mich wird, einen Nachfolger für das Unternehmen zu finden. Deine Arbeitsmoral, dein Fokus und deine Begabung, mit Menschen umzugehen, machen dich für mich zu mehr als einer guten Kandidatin. Ich übergebe dir hiermit mein Unternehmen. Seien wir ehrlich: In den letzten drei Jahren hast du die Federführung sowieso schon übernommen. Alle wesentlichen Geschäftsentscheidungen hast du allein getroffen. Du brauchst mich nicht mehr. Mache mein Baby groß und erfülle dir deine Träume damit. Den ganzen Papierkram hab ich beigefügt. Du musst die Sachen nur noch unterschreiben und zu meinem Notar schicken.

Alles Gute,
dein Frank.

P.S. Deine Hartnäckigkeit habe ich vergessen. Wahrscheinlich ist das dein Geheimrezept: Du gibst einfach nicht auf.
P.P.S. Abschiede sind nicht mein Ding.“

Dalia flüstert: „Ich glaube, ich bin eure neue Chefin.“ – „Wie? Ganz offiziell?“, fragt ihre Assistentin. „Ja, ganz offiziell.“, langsam breitet sich ein Grinsen auf Dalias Gesicht aus. Was für ein Start in den Tag. Sie sagt es nun laut: „Frank hat mir gerade die Leitung übertragen. Also er hat mir das Unternehmen überschrieben.“ – „Gratuliere!“ – „Toll!“, kommt es von den Mitarbeitern. Während jemand eilig eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank holt und die Gläser befüllt, macht jemand anderes Musik an. Dalia summt mit und kann ihr Glück kaum fassen. Sie ist noch nicht am Ende ihrer Pläne, aber gerade hat sie einen Riesenschritt genommen, ohne es überhaupt zu merken. Manchmal zahlt sich Arbeit auf unerwartete Weise aus. Heute feiert sie. Morgen arbeitet sie weiter. Fokussiert.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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