Hinsehen

Es knirscht jedes Mal, wenn sie die Tür zu ihrem Haus öffnet. Sand und Baustaub erschweren es der Tür, lautlos über den Fliesenboden zu streifen. Andrea hört es schon gar nicht mehr. Sie nimmt auch den leichten Druck nicht mehr war, den sie ausüben muss, um die Tür überhaupt zu öffnen. Sobald sie den Flur mit der Baustelle verlassen hat und in ihrem fertiggestellten Wohnzimmer sitzt, vergisst sie das Chaos, das im Nebenzimmer auf sie und ihren Mann wartet. Die Zeit steht still und Andrea liebt jeden Moment dieser zeitlosen Welt. Das Baby liegt im Stubenwagen und sie könnte stundenlang davor sitzen.

DingDong. Glück gehabt, sonst weckt die Türklingel dieses kleine Wesen immer. Ihre Mutter geht direkt auf das Baby zu. „Schläft ja“, stellt sie fachmännisch fest. „Wir kommen gerade von draußen rein. Jetzt schläft sie bestimmt etwas länger.“ – „Schade, bekomme ich trotzdem einen Kaffee?“ – „Natürlich.“ Während Andrea den Kaffee in den Filter löffelt, beobachtet sie ihre Mutter aus den Augenwinkeln. Die Nase ganz leicht aufgebläht und auf der Stirn die kleine Falte zwischen den Augenbrauen, die sich mit jedem Schritt durch die Küche vertieft. „Wie sieht es nebenan aus?“ – „Baustelle meinst du?“ – „Ja, was denn wohl sonst?“ – „Genauso wie vor zwei Tagen. Ich geb’ dir Bescheid, wenn wir fertig sind.“ Andrea lächelt ihre Mutter an und hofft, sie damit ruhig zu stellen. Selbstverständlich kennt sie ihre Mutter gut: Es wird ohne Rücksicht auf Verluste alles ausgesprochen. „Wie lange soll das denn noch dauern? Das stört dich doch wohl auch, dass ihr hier auf einer Baustelle lebt.“

Demonstrativ sieht Andrea sich um. Ihr Blick gleitet über die neue Küchenzeile und die liebevoll eingerichtete Sitzecke. Die Wände riechen noch ganz leicht nach der frischen Farbe. Alles glänzt noch so, wie es nur kurz nach einer Renovierung glänzt: Funkelnd mit dem unausgesprochenen Versprechen, niemals damit aufzuhören, wenn man sich nur um alles kümmert. „Also ich finde, wir leben hier schon ziemlich gut. Wohnzimmer, Küche, Bad und Schlafzimmer sind fertig. Alles andere darüber hinaus ist Luxus.“ – „Luxus, den ihr haben wolltet. Und jetzt hört ihr einfach auf, weil euch die Luft ausgeht.“

Andrea widersteht der Versuchung, einen bissigen Kommentar abzugeben. Es würde ja doch im Streit enden, so wie immer. Was ihre Mutter nicht versteht, ist für Andrea ganz einfach: Man kann auf die Lücken blicken oder auf das, was schon da ist. Sie kann ihre Zukunft in diesem fertig ausgebauten wunderschönen alten Bauernhaus sehen, weil sie jetzt schon hinsieht und alles hat. Sie hat eine Familie. Einen Mann, ein Kind und sich. Warum sollte sie mehr brauchen, wenn sie doch schon alles hat? Den Streit spart Andrea sich, aber sie kann sich das Grinsen nicht verkneifen, als ihre Mutter die Enkelin einige Minuten später auf dem Arm hält und ihr zuflüstert, dass diese ohnehin das wichtigste sei. Eben.

Lebt leuchtend, Lena.

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