Veränderung

Tag fünf. Verena atmet tief durch und betritt die Werbeagentur. In ihrem blauen, maßgeschneiderten Kostüm fühlt sie sich seltsam steif, aber zeitgleich auch sicher. Sie trägt das Kostüm wie eine Uniform: Die Gleichheit mit den anderen Geschäftsleuten, die ihr in ihrem neuen Berufsalltag begegnen, hilft ihr zu vergessen, dass sie diesen Job erst seit fünf Tagen hat. Den Abschluss hat sie mit Bravour bestanden und durch viele glückliche Verstrickungen hat sie Herrn Peters kennengelernt, der gerade dabei war, die Auflösung seiner Agentur zu planen. Eines kam zum anderen und Verena hat Herrn Peters die Agentur abgekauft. Der Mietvertrag und der Arbeitsvertrag der Mitarbeiterin laufen einfach weiter. Ein guter Deal, auch wenn Verena ständig in Sorge ist, man könne sie dabei ertappen, wie sie einen Fehler macht oder ihr gar vorwerfen, gar keine echte Marketingkauffrau zu sein.

„Guten Morgen“, begrüßt sie ihre Sekretärin, die locker 20 Jahre älter als sie ist. Aus ihrem Arbeitsvertrag weiß Verena, dass die Sekretärin schon seit bald 18 Jahren in der Agentur tätig ist. Sie verfügt über einen enormen Wissensschatz, insbesondere was den Büroablauf angeht. Darauf kann Verena sich für den Moment verlassen. Allerdings wird sie einige Umstrukturierungen vornehmen, bei denen sie auf Zustimmung hofft. Frau Mora sieht vom Computerbildschirm auf und nickt kurz. Wenn sie das überhaupt getan hat. Genauso gut könnte das auch eine zufällige Bewegung gewesen sein.

Frau Mora verfügt zwar über Fähigkeiten im Büroablauf, aber zeitgleich auch über ein Portfolio an negativen Emotionen. Hinter einer höflichen Fassade, Verena ist immerhin ihre neue Vorgesetzte, verbirgt sie ein verbittertes Wesen. Verena fühlt sich eingeschüchtert, versucht aber tapfer, sich nichts anmerken zu lassen. Sie ist schließlich die Chefin!

Es ist Freitag. Verena hat sich also eine Woche die Abläufe angesehen, wie sie sind und ist erschüttert über die urzeitlichen Zustände. Hier kann man so viel verändern. Die Aktenschränke flehen förmlich um Digitalisierung und die Sortierung der Post in schwere Unterschriftenmappen wirkt müßig – aus der Zeit gefallen. Verena fügt der Liste im Kopf immer neue Stichpunkte zu.

Sie bittet Frau Mora zu sich und kündigt an, dass fortan die Briefpost an Kunden nach Möglichkeit per Mail verschickt werden soll. Sie startet extra mit einer leichten Aufgabe, damit Frau Mora Zeit gewinnt, um sich an ihren neuen Führungsstil zu gewöhnen. Frau Mora schluckt. Sie sagt: „Das geht nicht.“ – „Wieso nicht?“ – „Das macht man so nicht. Unsere Kunden legen wert auf eine gewisse Etikette.“ – „Ich bin zuversichtlich, dass die Veränderung gut angenommen wird.“ – „Aber wir haben das schon immer anders gemacht.“

Und genau da liegt das Problem. Verena erinnert sich an den Lateinunterricht in der Oberstufe. Im Kapitel über die Stoiker lernte sie mehr als nur eine wichtige Lektion, aber eine davon legt sie Frau Mora jetzt nahe: „Ist es nicht besser, wenn man von Zeit zu Zeit hinterfragt, warum man Dinge wie tut und ob es überhaupt noch Sinn ergibt, wenn man sie auf diese Art und Weise tut? Wäre es nicht klüger, schlechte Gewohnheiten in regelmäßigen Abständen auszumerzen?“ Sie kann sehen, wie sehr Frau Mora gekränkt ist. „Wir haben das schon immer so gemacht, aber wenn sie darauf bestehen.“ Mit herunterhängenden Schultern, aber festen Schrittes verlässt sie Verenas Büro.

Verena sitzt still an ihrem Schreibtisch. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Sie will Frau Mora nicht vor den Kopf stoßen. Aber sie hat die Agentur auch nicht übernommen, um im letzten Jahrtausend zu arbeiten. Sie gibt ihr einen Moment Zeit und geht dann hinter ihr her. „Entschuldigen Sie bitte. Ich wollte Sie nicht verletzen. Sie leisten hier schon fast zwei Jahrzehnte lang großartige Arbeit, ansonsten gäbe es die Agentur sicherlich nicht so, wie sie heute ist. Mein Ziel ist es, die Agentur auch noch in die nächste Dekade zu führen. Das schaffe ich aber nur gemeinsam mit Ihnen. Wollen wir gemeinsam an einem Strategiewechsel arbeiten? Es sind sicherlich nicht alle Gewohnheiten schlecht, etablierte Abläufe können durchaus sinnvoll sein und ich bin ein großer Fan davon. Es wäre schön, wenn wir gemeinsam Wege finden können, damit unser beider Zeit effektiver genutzt wird.“

Frau Mora hat sich den Monolog angehört und nickt. Diesmal aber wirklich. „Soll ich dafür einen Termin in Ihrem Kalender blockieren?“, fragt sie. „Sehr gerne und so schnell wie möglich.“

An diesem Nachmittag steht Frau Mora vor dem Kopierer und summt vor sich hin. Verena kann sie durch ihre halb geöffnete Tür hören. Sie hat heute noch eine wichtige Lektion gelernt: Man kann anderen ihr Glück nicht aufzuzwingen, aber versuchen, sie mit ins Boot zu holen.

Lebt leuchtend, Lena.

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