Verbunden

Ich denke den ganzen Tag an dich“, sagt sie und zündet eine Kerze an, die sie mitten auf den Küchentisch stellt. Sylvia drückt ihre Tochter zum Abschied und sagt: „Es wird alles gut. Gib einfach dein Bestes!“ Ihre Tochter ist schon halb aus dem Vorgarten raus, als sie sich umdreht: „Mama – lass die Kerze nicht ausgehen. Heute brauche ich jede Unterstützung.“ – „Keine Sorge, die Kerze bleibt an.“

Sylvia beginnt mit der Hausarbeit und zieht sich dann in das Arbeitszimmer zurück, um mit ihrem Job anzufangen. Sie kann sich nicht konzentrieren. Immerzu drehen sich ihre Gedanken um Sophia, die gerade ihre letzte Abiturklausur schreibt. Sie steht nach einer knappen halben Stunde wieder auf und geht in die Küche. Dort brennt immer noch die Kerze, die sie zuvor mit ihrer Tochter angezündet hat. Eine Mischung aus Zufriedenheit und Gelassenheit gesellt sich zu ihrer inneren Unruhe und lässt sie ruhiger atmen. Es wird alles gut gehen. Für Sylvia ist nicht wichtig, ob und wie Sophia das Abitur letztlich besteht. Es kommt für sie nur darauf an, dass Sophia zufrieden mit sich selbst ist. Und das ist nicht immer leicht. Aus eigener Erfahrung weiß Sylvia, wie es ist, wenn man sich selbst am meisten im Weg steht und die eigene Messlatte höher hängt, als man es für andere täte. Ihre ganze Erziehung in den letzten 18 Jahren – mein Gott schon 18 Jahre – zielte darauf ab, Sophia beizubringen, mit der eigenen Leistung zufrieden zu sein.

Sophia sitzt im Prüfungsraum und präpariert gewissenhaft ihren Arbeitsplatz: Einen Bleistift, einen Radiergummi, den Füller und die Wechselpatronen legt sie links neben sich. In der Mitte liegt ein Haufen Schmierpapier, den sie sich vorher abgezählt von der Prüfungsaufsicht abgeholt hat. Rechts neben ihr liegt eine geöffnete Packung Studentenfutter, ein ausgepackter Traubenzucker und daneben steht ihre Wasserflasche. Sie wird nicht diejenige sein, die während der Klausur laut raschelt, um ihr Essen auszupacken. Sophia ist bereit. Jetzt oder nie. Ihre Nerven sind angespannt, aber sie ist gut vorbereitet und deshalb kann sie zufrieden sein. Das ist jedenfalls das, was ihre Mutter ihr immer sagt.

Sylvia verlegt ihren Arbeitsplatz an den Küchentisch. Allein wegen der brennenden Kerze ist das sicherer und so fühlt sie sich ihrer Tochter, die vor wenigen Minuten mit dem Schreiben angefangen hat, näher. Sie blickt in die Flamme und schickt positive Gedanken in Richtung ihrer Tochter. Diesen Vorgang wiederholt sie in regelmäßigen Abständen, nicht weil sie ernsthaft davon ausgeht, dass ihre Tochter durch eine telepathische oder gar magische Verbindung etwas davon spüren würde, sondern um sich selber immer wieder zu beruhigen.

Sophia schreibt. Deutsch liegt ihr. Ein freier Text zum Thema Symbolik. Das liegt ihr noch mehr. Sie schreibt über ihre Mutter, die immer für sie da war und ist. Über ihre Mutter, die seit der ersten Klasse zu jedem noch so kleinen Vokabeltest eine Kerze für sie angezündet hat. Sophia denkt an die Kerze, die gerade in der Küche zu Hause brennt und weiß: Ihre Mutter denkt an sie. Sie weiß auch, dass alles gut wird und es nicht auf die Note heute ankommt. Sophia fühlt sich sicher, auch wenn sie nicht im sicheren Elternhaus ist. Die Kerze symbolisiert so viel mehr als die Klausur heute. Sie steht für alles, was zwischen Sophia und ihrer Mutter nicht laut ausgesprochen werden muss. Sie steht für das Gefühl, nach einem anstrengenden Tag nach Hause zu kommen und alles noch so vorzufinden, wie es war, als man losgegangen ist. Nach Stunden beendet Sophia ihre Arbeit, räumt ihren Arbeitsplatz und stößt mit ihren Freunden an: Wie auch immer das Ergebnis ist, diese Prüfung ist beendet und kommt nicht mehr wieder. Sophia ist zufrieden.

Zu Hause wartet Sylvia neben der brennenden Kerze. Der Blick auf das linke Handgelenk verrät ihr, dass ihre Tochter jetzt fertig ist. Sie schreibt ihr eine kurze Nachricht, wie es gelaufen ist. Die Antwort zaubert Sylvia ein Lächeln auf die Lippen und sie beginnt zu summen: „Ist gut gelaufen. Du hast doch an mich geglaubt, dann musste ich wohl das gleiche tun.“ Manchmal ist es gut, wenn jemand an dich glaubt.

Lebt leuchtend, Lena

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