Multitasking

Sabrina hat alles im Griff. Immer. Sie ist die perfekte Multitaskerin. Zufrieden sitzt sie an ihrem großen Schreibtisch und beantwortet E-Mails, während sie einen Klienten am Telefon berät. Es klopft an der Glastür, Sabrinas Chef steht davor. „Kannst du gleich mal rüber kommen?“, flüstert er. Sabrina hebt die Hand und zeigt ihre fünf Finger. Der Chef nickt und schließt die Tür. „Herr Braun, ich würde Folgendes vorschlagen:“, beginnt sie ihre Standardeinleitung, wenn sie ein Telefonat beenden wird.

„Was gibt’s?“, fragt Sabrina ihren Chef, während dieser einen großen Ordner aus dem Regal holt und sie sich auf den schwarzen Stuhl vor seinem Schreibtisch setzt. „Würdest du dich bitte um diesen neuen Auftrag kümmern? Ist ziemlich viel Einarbeitung erforderlich, aber du bist doch mein Golden Star. Wenn das jemand schafft, dann du.“ Sabrina denkt an ihren vollen Terminkalender und die To-Do-Listen, die sich auf ihrem Desktop stapeln. „Klar, immer her damit.“ Sie nimmt den schweren Ordner in die Hand und verlässt lächelnd das Büro. Wie schön, dass sie gebraucht wird. Sie muss nur ihre Prioritätenliste für diese Woche anpassen und schon ist alles geregelt.

Zurück in ihrem Büro findet sie eine E-Mail ihrer besten Freundin im Posteingang: „Heute zusammen lunchen? Wir haben uns schon ewig nicht mehr gesehen.“ Sabrina überlegt kurz. Es stimmt, sie hat Maren schon seit mindestens fünf Wochen nicht mehr gesehen. Das ist wichtig, also verschiebt Sabrina einen Teil ihrer Telefonate auf den späten Nachmittag. Dann muss die Yogaeinheit heute eben ausfallen. Bis zum Mittagessen ist Sabrina mit dem dicken Ordner ihres Chefs beschäftigt. Das neue Projekt ist aufregend und Sabrina fühlt sich in ihrem Element. Sie hat alles im Griff.

Maren sitzt bereits an ihrem ehemaligen Stammplatz am Fenster. Als die beiden angefangen haben zu arbeiten, haben sie sich hier fast täglich in der Mittagspause getroffen. Das Restaurant liegt direkt am Fluss und vom Fenster aus kann man die Strömung des Wassers verfolgen. „Hallo“ – „Hi“, antwortet Maren und beide umarmen sich, bevor sie sich dann gegenüber wieder an den kleinen runden Tisch setzen, der eher den Charme eines französischen Bistros versprüht, als eines Sternrestaurants.

„Hast du schon bestellt?“, fragt Sabrina, während sie die Karte studiert. „Nein, ich wollte auf dich warten. Also ehrlich gesagt war ich auch nicht ganz sicher, ob du vielleicht im letzten Moment absagst.“ – „Das würde ich nicht machen.“ – „Eigentlich nicht, aber du hast so viel zu tun und bist ständig so gestresst, dass ich es dir nicht übel genommen hätte.“ – „Wieso denn gestresst? Ich weiß, ich hab in letzter Zeit weniger Zeit, aber ich bin nicht gestresst. Wenn überhaupt ist das positiver Stress. Ich fühle mich super.“ – „Das Schlimme ist, dass du das wirklich glaubst.“

Sabrina ist irritiert. Sie blickt Maren in die Augen, die sagt: „Sabrina, wir kennen uns doch schon ewig. Machst du nur mir was vor, oder dir auch?“ Sabrinas Irritation weicht Verwirrung. Sie ist mit ihren 30 Jahren kurz davor, Juniorpartnerin in einem Wahnsinnsunternehmen zu werden. Das hat vor ihr noch keine andere Frau geschafft. Darauf kann sie doch stolz sein. Ist der Weg bis dahin manchmal anstrengend? Ja sicher. Aber er wird sich lohnen, da ist sich Sabrina sicher. Da Sabrina nicht antwortet, spricht Maren weiter: „Ich will dir nicht weh tun, aber ich glaube wirklich, dass du dir selber weh tust mit deiner Arbeitswut.“

„Ich arbeite gerne.“, antwortet Sabrina. „Ja, nur um welchen Preis?“ – „Ich hab alles im Griff. Wenn du mich einen Tag lang beobachten könntest, wüsstest du wie ich arbeiten. Ich bin die Königin des Multitaskings. Das bringt mich meinem Ziel jeden Tag ein Stückchen näher. Heute hat mich Sebastian seinen ‚Golden Star‘ genannt.“ – „Seinen was? Du bist wohl eher sein Fußabtreter. Merkst du gar nicht, wie sehr er dich ausnutzt?“ – „Blödsinn. Er ist mein Chef und ich mache meinen Job.“ – „Wann hattest du dein letztes freies Wochenende?“

Die Frage sitzt. Sabrina wird still. Das letzte freie Wochenende ist mindestens schon 5 Monate her. Es vergeht tatsächlich kein Samstag, an dem es nicht irgendeinen Notfall gibt, den nur Sabrina lösen kann. Aber so ist das nun mal. Sie wird gebraucht, weil sie unersetzlich ist.

„Niemand ist unersetzlich. Das weißt du doch, oder?“, fragt Maren behutsam. Naja. „Solange du nur die Arbeit von anderen machst, verlierst du dich jeden Tag ein kleines bisschen. Sabrina du bist wahnsinnig talentiert auf deinem Gebiet und du machst ohnehin den ganzen Tag die Chefarbeit, bekommst dafür aber nie die Anerkennung, die deine Arbeit wert wäre. Sag auch mal ‚Nein‘ zwischendurch. Sonst ist am Ende nichts mehr von dir übrig, das Juniorpartnerin werden kann.“ Maren scheint zufrieden mit ihrer Rede zu sein, während Sabrina froh ist, dass sie endlich das Thema wechseln können. Als die beiden ihre Mahlzeit beendet haben, umarmen sie sich und Maren sagt: „Denk mal drüber nach.“ Sabrina nickt, denkt aber im selben Moment schon an das neue Projekt und ihre anderen Klienten im Büro.

„Kannst du gleich nochmal kommen, bitte?“, fragt Sebastian, während Sabrina gerade ihre Handtasche zurück in den Wandschrank legt. „Klar, bin in drei Minuten da.“ Sabrina überprüft ihre Frisur, zieht den roten Lippenstift nach und macht sich auf den Weg in das Büro ihres Chefs. „Und, was meinst du?“, fragt er sie. „Worauf bezogen?“ – „Du bist süß. Das neue Projekt natürlich.“ Hat er sie gerade süß genannt? Süß? Sie ist ehrgeizig, ambitioniert und hervorragend in ihrem Job. Aber sicher nicht süß. „Sag mal, wenn das neue Projekt durch ist, beförderst du mich dann zur Juniorpartnerin?“ – „Du weißt ja wie das ist. Erstmal muss ich mit dem Vorstand sprechen und der Prozess dauert einfach. Aber irgendwann klappt das bestimmt. Was ist jetzt mit dem Projekt?“

15 Minuten später steht sie mit ihrer Handtasche auf der Schulter und ihrem privaten Handy am Ohr vor dem Haupteingang. „Ich hab gerade gekündigt. Hast du Lust, dich mit mir selbstständig zu machen?“ – „Was?“, fragt Maren. „Du hast Recht, ich hatte gar nichts im Griff und hätte viel früher ‚Nein‘ sagen sollen. Die Aufgaben haben mich wahnsinnig gemacht. Multitasking ist überhaupt nicht möglich. Ich hätte noch Jahre so weitergelebt und mir selber was vorgemacht, wenn du mich gerade nicht wachgerüttelt hättest.“ – „Sabrina ich freu mich für dich. Aber ich habe einen Job. Was willst du denn machen?“ – „Irgendwas mit Frauenpower und Emanzipation vielleicht. Schritt für Schritt und eins zur Zeit.“ Die beiden verabreden sich zur Happy Hour nach der Arbeit. Sabrina fühlt sich befreit und verlässt summend den Vorplatz des Gebäudes, in dem sie bis vor 30 Minuten noch ihre Zukunft gesehen hat. Manchmal muss man etwas wagen, um etwas zu gewinnen. Sabrina hat gerade die Möglichkeit gewonnen, ihre Aufgaben nacheinander zu erledigen. Ein super Gefühl.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch die Geschichte gefallen? Dann lasst gern einen Kommentar da. Könnt ihr multitasken? Könnt ihr „Nein“ sagen?

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert