Stimmgewalt

Maja sitzt auf ihrem Stuhl. Sie wippt mit ihrer rechten Hacke immer wieder auf und ab. Der Fußboden überträgt die Bewegung auf den Tisch, den sie sich mit Luzie teilt. Luzie stupst sie an: „Kannst du damit aufhören?” Maja stoppt ihren Fuß und beginnt, an ihrer Federtasche herumzufummeln. Reißverschluss auf. Reißverschluss zu. Immer wieder verheddert sich dabei das Lineal. Wieder ein Stupser in Majas Seite. Sie legt die Hände auf den Tisch und blickt nach vorn. Noch drei Minuten. Hinter der Lehrkraft steht schon der nächste Tagesordnungspunkt auf dem Smartboard: „Klassensprecherwahl” Maja hat mit niemandem über ihren Plan gesprochen. Die nächste Folie erscheint. Drei Namen stehen darauf. Und eine weitere Zeile mit einem Fragezeichen.

Schweißperlen bilden sich auf der Stirn der 14-Jährigen. Ihr Herz schlägt bis zum Hals. Neben ihr lehnt sich Luzie entspannt auf ihrem Stuhl zurück. Die ganze Klasse freut sich auf die Wahl. Eine willkommene Unterbrechung des Matheunterrichts. „Stellt sich spontan noch jemand zur Wahl?” Maja schluckt und krümmt die Zehen in ihren Schuhen. Sie hebt den Arm langsam in die Luft. Schlagartig beginnt das Gemurmel. Luzie sitzt mit großen Augen plötzlich wieder direkt neben Maja und streckt den Rücken durch. Aus einer Ecke des Klassenraums hört man jemanden flüstern: „Was will Miss Schüchterqueen denn? Die sagt doch nie etwas.”

Maja sieht der Lehrkraft in die Augen und nickt, als diese ohne Worte fragt, ob ihr Name eingegeben werden soll. Sie räuspert sich. „Ja ich bin schüchtern. Aber ich habe auch eine Stimme, die ich benutzen kann und werde. Und deshalb will ich Klassensprecherin werden.” Ihre Stimme klingt seltsam klar und laut. Das Üben vor dem Spiegel hat sich gelohnt. Das Gemurmel verstummt. „Gut, dann kommen jetzt alle Kandidaten nochmal zu Wort. Maja, möchtest du noch etwas hinzufügen? Du hast ja schon angefangen”, sagt die Lehrkraft. Maja lächelt und steht auf. Alles eingeübt. Sonst wäre das wahrscheinlich gar nicht möglich. Aber ihr Opa hat gesagt, man müsse auch mal über seinen Schatten springen.

„Ich möchte gern eine Klassensprecherin werden, weil ich das gut könnte.” Sie fixiert die Eckpfeiler des Klassenraums, damit sie nicht direkt in die Gesichter mit gerunzelten Stirnen, offenen Mündern und zusammengekniffenen Augen blicken muss. „Ihr fragt euch bestimmt, warum. Ganz einfach. Ihr wisst alle, dass ich gut zuhören kann. Ihr habt mir alle schon mal etwas anvertraut. Ich kann deshalb besser als alle anderen für eure Interessen sprechen.” Sie senkt den Blick und setzt sich. Ganz egal, wie die Wahl ausgeht, sie hat sich getraut. Es kommt nicht immer auf das Erreichen des Ziel an. Manchmal genügt es schon, den ersten Schritt zu wagen.

Lebt leuchtend, Lena.

P.S. Hat Euch der Beitrag zum Lächeln gebracht? Was hat Euch gefallen und was vielleicht auch nicht? Ich freue mich auf Euer Feedback in den Kommentaren oder per Kontaktformular.

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